Galgentochter
Kapitel 1
Frankfurt, im Jahr 1532
Hella schreckte von ihrem Kissen hoch, sah verstört um sich und schüttelte den Schlaf ab. Durch die Holzläden drang die Morgendämmerung und holte die Gegenstände des Schlafzimmers langsam aus dem Dunkel der Nacht.
Unten wurde laut gegen die Tür gehämmert.
«Heinz! Heinz, wach auf! Da unten ist jemand!»
Richter Heinz Blettner brummte und drehte sich auf die andere Seite des Bettes. Dabei stieß er den silbernen Leuchter vom Nachtkästchen, der krachend zu Boden fiel, doch das störte ihn nicht. Er umklammerte einen Kissenzipfel und schnarchte mit geöffneten Lippen weiter.
Das Klopfen wurde drängender.
«Heinz! Jetzt wach auf, verflixt. Der da draußen drischt uns noch die Tür ein!»
Heinz Blettner rührte sich nicht, versah stattdessen jeden einzelnen Schnarchlaut mit einem kleinen Triller.
Seufzend stand Hella auf, warf sich einen Umhang über ihr Nachtkleid, glitt in die Lederpantoffeln und eilte die Treppe hinunter. Im Vorübergehen sah sie in die Küche, in der das Herdfeuer erloschen und die Wassereimer noch nicht gefüllt waren. Auch sonst lag das Haus ruhig da. Nur das Klopfen durchbrach die Stille des gottfrühen Morgens.
Hella riss die Haustür auf und wich mit einer raschen Kopfbewegung der Faust eines Torwächters aus.
«Was ist los? Was soll der Spektakel?»
«Gelobt sei Jesus Christus, Blettnerin.»
«In Ewigkeit, amen. Also? Was ist?»
Der Torwächter wischte sich den Schweiß von der Stirn, schluckte, holte tief Luft und sagte: «Den Herrn Richter müsst’ ich sprechen.»
«In welcher Angelegenheit?»
«Das kann ich nur ihm mitteilen. Eine Amtsangelegenheit.»
Hella rückte ihren Umhang zurecht und sah den Torwächter streng an. «Ein Toter?»
«Das darf ich nur dem Richter sagen.»
Hella stemmte die Hände in die Hüften. «So? Nur dem Richter, was? Da hämmerst du gegen die Tür, als wolltest du durch das Holz schlagen, reißt alles und jeden aus dem Schlaf, und dann verwehrst du mir noch Auskunft darüber, warum ich zur Dämmerstunde aus dem Bett gestiegen bin? Bist du von Sinnen, Mann?»
Der Torwächter nahm sein Barett ab und knüllte es zwischen den Fingern. «Ihr wisst doch, Blettnerin, was der Rat verordnet hat. Niemand von uns darf Euch Auskunft erteilen. Euer Mann selbst hat dies so gewünscht. Ich verliere meine Stellung, wenn ich Euch sage, was Ihr wissen wollt. Wovon soll ich dann Frau und Kinder ernähren?»
«Ach, Mumpitz!», schnaubte Hella. Sie hätte dem Kerl gern eine geharnischte Antwort gegeben, aber es war, wie er sagte: Der Rat hatte allen Bediensteten Verbot erteilt, mit ihr und ihrer Mutter Gustelies zu sprechen. Und das nur, weil Hella hin und wieder ein wenig in den Akten ihres Mannes geblättert und die darin enthaltenen Criminaliamit ihrer Mutter besprochen hatte. Niemand war dabei zu Schaden gekommen, im Gegenteil. Schon zwei Mal waren es die Hinweise von Hella und Gustelies gewesen, die den Richter auf die Fährte des Taugenichts gebracht hatten. Aber Undank war der Welt Lohn!
Wortlos gab sie den Weg ins Haus frei.
«Wenn du den Richter sprechen willst, so musst du ihn wecken», sagte Hella knapp. «Ich werde derweil in der Küche die Grütze kochen. Die Magd hat nämlich heute frei.»
Der Torwächter sah, wie sie in der Küche verschwand und ungeschickt mit einigen Holzscheiten hantierte. Er lächelte, dann stieg er die Treppe zur Schlafkammer hinauf.
Der Richter war inzwischen wach, hatte sich notdürftig bekleidet und war gerade dabei, sich das Haar zu kämmen, als der Torwächter an die offene Tür klopfte.
«Komm herein», rief Blettner, legte den Kamm auf ein kleines Tischchen und dann den Finger auf den Mund. «Kein Wort, Torwächter. Ich wette, sie lauscht. Hat sie versucht, dich auszufragen?»
Der Torwächter nickte.
«Ha! Wusst’ ich’s doch. Wir gehen in mein Arbeitszimmer, um ganz ungestört zu sein.»
Richter Blettner winkte mit der Hand, schlich dann auf Strümpfen durch den Korridor, der Torwächter hinterdrein, bis zum Arbeitszimmer. Erst als die beiden Männer drin waren, sich auf dem Gang nichts regte und aus der Küche das Prasseln des Herdfeuers zu hören war, fragte der Richter: «Was gibt es?»
«Eine Tote, Herr. Auf dem Galgenberg vor dem Mainzer Tor.»
«Mach dich nicht lächerlich, Torwächter. Ein Toter auf dem Galgenberg! Wo, wenn nicht dort, soll es sonst Tote geben?»
«Ihr versteht nicht, Herr. Der Tote ist eine Frau, liegt unter dem Galgen, und am Balken
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