Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Prolog
Bei einem Jungen wäre alles anders gewesen, der letzte Rest Hoffnung wäre verflogen …
P
avel Pollock kämpfte mit einem Aufruhr an Gefühlen. Um seine Erregung zu überspielen, stand er abrupt auf und beugte sich über die Wiege, in der ein winziges Mädchen lag. Seine Tochter . Die Vorstellung, dass von ihr alles abhängen würde, quälte ihn schon jetzt. Er schwankte zwischen dem Hochgefühl, Vater geworden zu sein, und der Verzweiflung darüber, dem Schicksal machtlos gegenüberzustehen. Nur Dragomira, seine Mutter, teilte das Wissen, das ihn so sehr quälte. Nur sie wusste um die Kraft, die das kleine Mädchen in sich trug.
»Oksa … unsere Unverhoffte.« Dragomira flüsterte die Worte, als hätte sie Angst, dass jemand sie hören könnte.
Pavel zuckte zusammen und ein Anflug von Verstimmung huschte über sein Gesicht. Er packte seine Mutter am Arm und zog sie hinaus in den Flur der Entbindungsstation.
»Mutter!«, zischte er wütend. »Du kannst es wohl nicht lassen?«
»Nein, Pavel«, entgegnete Dragomira mit gedämpfter Stimme. »Ich werde die Hoffnung nie aufgeben, niemals!«
»Du wirst meine Tochter nicht dorthin mitnehmen«, sagte Pavel und drückte angespannt den Rücken gegen die Wand. »Ich werde es nicht zulassen! Ich bin ihr Vater, und ich will, dass meine Tochter ganz normal aufwächst. So normal wie möglich jedenfalls«, verbesserte er sich.
Wortlos starrten sich die beiden an, bis schließlich Dragomira das Schweigen brach: »Mein Sohn, vergiss nicht, dass du, wie wir alle, mit unserer Welt verbunden bist. Und Oksa auch, ob du es willst oder nicht. Wenn es eine noch so kleine Chance gibt, zurückzukehren, werden wir sie ergreifen. Das sind wir denen schuldig, die zurückgeblieben sind und seit dem Großen Chaos unter der Herrschaft des Bösen leben!«
»Mutter«, erwiderte Pavel mit mühsam unterdrückter Wut, »ich habe großen Respekt vor dir, aber du hast keine Ahnung, was ich dafür gäbe, meine Tochter aus dieser Geschichte herauszuhalten.«
»Ich fürchte, das liegt nicht in unserer Hand, Pavel«, sagte Dragomira. »Wie sehr wir uns auch bemühen, diese Entscheidung trifft das Schicksal …«
Bigtoe Square
D
reizehn Jahre später bahnte Oksa sich in ihrem mit Umzugskartons vollgestellten Zimmer am Bigtoe Square in London mühsam einen Weg zum Fenster. Sie zog das Rollo hoch und drückte die Nase an die kalte Scheibe. Mit kritischem Blick versuchte sie, sich auf den regen morgendlichen Verkehr auf dem Platz zu konzentrieren. Dann seufzte sie tief.
»Bigtoe Square, daran muss ich mich noch gewöhnen«, murmelte sie vor sich hin, die schiefergrauen Augen in die Ferne gerichtet.
Erst vor wenigen Tagen war die ganze Familie Pollock von Paris nach London gezogen. Nach ewigen Tuscheleien hinter Oksas Rücken hatte ihr Vater Pavel die Neuigkeit mit dem ihm eigenen Ernst verkündet: Zehn Jahre lang sei er Chefkoch in einem renommierten Pariser Restaurant gewesen, doch nun habe er endlich die Chance, ein eigenes Lokal zu eröffnen. In London. Dieses Detail erwähnte er so beiläufig, dass Oksa glaubte, sich verhört zu haben.
»Meinst du London … in England?«, hatte sie zögernd gefragt.
Ihr Vater hatte sichtlich zufrieden bejaht und sofort weitergeredet, als er ihre verblüffte Miene sah.
»Es ist eine Chance, die man nur ein Mal im Leben bekommt«, hatte er mit großem Nachdruck gesagt.
Marie Pollock hatte nicht lange gezögert. Ihr Mann war in letzter Zeit sehr unruhig gewesen, und ein Ortswechsel würde der ganzen Familie sicherlich guttun. Und Oksa? Mit dreizehn Jahren hatte man natürlich nichts zu sagen. Eigentlich hatte sie keine große Lust gehabt, aus Paris wegzugehen, und schon gar nicht, ihre Großmutter und ihren besten Freund Gus Bellanger zurückzulassen. Oksa konnte sich ein Leben ohne die beiden nicht vorstellen. Als sie erfuhr, dass Dragomira und die Bellangers mit nach London kämen, war sie außer sich vor Freude. Alle, die sie liebte, würden dabei sein!
Gus’ Vater, Pierre Bellanger, hatte sich dem Projekt seines alten Freundes Pavel Pollock sofort angeschlossen, und nun würden beide zusammen bald das viel beschworene französische Restaurant eröffnen, von dem sie seit Jahren träumten.
Zerstreut beobachtete Oksa den Verkehr rund um den Platz, dann trat sie einen Schritt zurück und drehte sich um. Die Hände in die Hüften gestemmt, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und stieß einen langen Pfiff aus.
»Was für ein
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