Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
binʼs. Mathe fällt heute aus!“ Die Stimme ihrer Tochter klang hell und aufgeregt. „Frau Braun ist krank geworden. Kannst du mich abholen?“
„Ach Liebes, du bist es“, versuchte Sabine, die leichte Irritation in ihrer Stimme plausibel erscheinen zu lassen. „Was ist denn los, warum läufst du nicht?“
„Wegen Nicole. Kannst du sie auch nach Hause bringen? Ihre Mama ist nicht da, und der Papa ist arbeiten.“
„In Ordnung, wartet vor dem Haupteingang, ich bin in fünf Minuten da.“
Als sie auflegte, merkte sie, wie sich ihre Anspannung wieder löste. Markus und sie hatten ihrer Tochter Laura für Notfälle ein Handy geschenkt, auch wenn sie erst acht Jahre alt war. Es war ein Prepaid-Gerät, und soweit Sabine es überblicken konnte, ging Laura sparsam mit ihrem Guthaben um. So erklärte sie sich die Alarmglocken in ihrem Kopf, die bei jedem der seltenen Anrufe ihrer Tochter sofort schrillten.
Drei Minuten später saß Sabine im Wagen und fuhr Richtung Heisingen, einem Stadtteil von Essen, der wie eine Halbinsel von den Wassern der Ruhr umschlossen war. Hier ging Laura in die dritte Klasse der Georgschule, einer kleinen Grundschule mit ausgezeichnetem Ruf, die weniger als einen Kilometer Fußweg von zu Hause entfernt lag.
Als Sabine in die letzten 200 Meter der Heisinger Straße einfuhr, erkannte sie Laura schon an ihrem langen blonden Zopf, der roten Jacke und dem bunten Tornister. Das Mädchen neben ihr war Nicole Kraus, zurzeit ihre beste Freundin. Laura kannte sie erst seit dem Sommer, als Nicole neu in die Klasse gekommen war, aber die Mädchen verstanden sich blendend. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und übernachteten oft gemeinsam bei ihnen oder Nicoles Eltern.
„Hi Mami“, rief Laura, als Sabine neben den beiden anhielt. Vergnügt verstaute ihre Tochter die beiden Tornister im Kofferraum des dunkelblauen BMW Kombi. Sie schien über den frühzeitig beendeten Schultag nicht allzu traurig zu sein. Lachend kletterten die Kinder auf die Rückbank und legten die Gurte an.
„Hallo, ihr zwei“, begrüßte Sabine die Mädchen. „Soll ich dich nach Hause fahren, oder möchtest du erst einmal mit zu uns?“, fragte sie Nicole.
„Nö, ich hab einen Schlüssel, und Mama ist bestimmt nur kurz einkaufen.“
„Hast du Bescheid gesagt, falls sie vom Einkaufen direkt hierherfährt?“, erkundigte sich Sabine.
„Hab ich unserer Klassenlehrerin gesagt.“
„Mathe fällt noch die ganze nächste Woche aus“, verkündete Laura fröhlich. „Aber ab Montag haben wir eine Vertretung“, fügte sie mit gespielt ernster Miene hinzu. „So ein Mist.“
Gut gelaunt berichteten die beiden Mädchen während der Fahrt von ihrem Tag, und Sabine ließ sich von der fröhlichen Ausgelassenheit anstecken.
Nachdem sie Nicole kurz nach halb zwölf am Steinhagen im Stadtteil Steele abgesetzt und gewartet hatte, bis das Mädchen mit einem Winken im Haus verschwunden war, wandte sie sich an Laura: „Was möchtest du heute essen, Liebes?“
„Hm“, Laura gab vor, angestrengt nachzudenken, „am liebsten Kartoffelbrei mit Fischstäbchen!“
Sabine schmunzelte, denn natürlich hatte sie die Antwort schon vorher gekannt. „Oje, da muss ich aber erst nachschauen, ob ich das Rezept noch irgendwo finde!“ Sie grinste, und beide mussten lachen.
Sabine dachte nach, Kartoffeln und Milch hatte sie noch zu Hause, doch der Vorrat an Fischstäbchen hielt dem scheinbar unstillbaren Verlangen ihrer Tochter nie lange stand. Sie steuerte den nächstgelegenen Supermarkt an, und schon bald hatten Mutter und Tochter alles in den Einkaufswagen geladen, was sie für die nächsten Tage brauchen würden. Auf dem Weg zur Kasse fiel Sabine noch etwas ein.
„Liebes, ich habe meinen Tee vergessen, er müsste dort drüben stehen.“ Sie sah ihre Tochter an und zwinkerte verschwörerisch. „Gegenüber von den Süßigkeiten.“
Nach diesem Zauberwort folgte Laura ihrer Mutter mehr als bereitwillig zurück durch die Gänge des Supermarkts. Es dauerte nicht lange, bis Sabine den klassischen schwarzen Darjeeling gefunden hatte. Sie nahm die Packung aus dem Regal und drehte sich zum Einkaufswagen hin. Für den Bruchteil einer Sekunde streifte ihr Blick dabei die Warteschlange vor der Kasse.
Es war ein Blick in den Abgrund der Hölle.
Freitag, 24. September, 12.10 Uhr
„Mach nur den Mund weit auf. Ja, so ist es gut.“
Er richtete die Leuchte aus und fing an, den Mundraum des Jungen mit dem kleinen Handspiegel zu untersuchen.
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