Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
wollte ihn nicht provozieren, lag einfach nur da und ertrug den Rhythmus seines massigen, schwitzenden Leibs.
Nach und nach legte sich ein Schleier über ihr Bewusstsein. Die Geräusche wurden leiser, der Schmerz wurde dumpfer, die Gefühle verschwammen. Sie wurde leicht. Das alles geschah nicht ihr, stellte sie sich vor. Sie lag gar nicht mehr in diesem Bett. Sie war hochgeflogen und saß wie ein kleiner Vogel in einem sicheren Versteck weit oben im Baum. Von dort schaute sie auf eine völlig Fremde herab.
Ein erneutes Aufwallen des Schmerzes ließ sie zurückkehren und kündigte endlich an, dass das Martyrium für dieses Mal zu Ende war.
„Danke, Kleine“, raunte der Mann spöttisch, nachdem er von ihr abgelassen hatte, und schloss mit zittrigen Fingern den Reißverschluss seiner Hose. Einen kurzen Moment starrte er sie ohne erkennbare Gefühlsregung an. Dann wandte er sich zum Gehen. Mit dem Gesicht zur Tür, die Hand lag bereits auf der Klinke, hielt er inne und flüsterte: „Ihr wisst, was mit euch passiert, wenn ihr jemandem davon erzählt. Denkt an meine Worte.“ Dann ließ er sie allein.
Die Stille legte sich wie ein bleierner Schleier über die Sinne der beiden Mädchen.
„Ist er weg?“ Julias angstvolle, brüchige Stimme drang kaum durch die Decke.
Das Herz schlug so laut in ihren Ohren, dass sie Julias Worte kaum verstand.
„Ja“, antwortete sie schließlich, „es ist vorbei. Versuch zu schlafen.“
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder fähig war, sich zu bewegen. Vorsichtig tastete sie nach ihren Sachen, zog sich die Schlafanzughose an, presste die Knie ganz dicht an die Brust und schmiegte ihren Kopf an das alte Stofftier. Der Eisbär war ein Geschenk ihres Vaters zu ihrer Geburt gewesen, und seit sie denken konnte, hielt sie ihn jede Nacht in ihren Armen.
Sie wünschte sich so sehr zu ihren Eltern, klammerte sich so intensiv an jeden Gedanken, den sie fassen konnte, dass die Eindrücke der gerade erlittenen Grausamkeiten mehr und mehr von ihr abrückten.
Lautlose Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie dalag und in ihren Gedanken nach Nangijala reiste, jenem Ort aus der Geschichte der Brüder Löwenherz, wo alle Menschen, denen es schlechtgeht in dieser Welt, stark, gesund und glücklich sind.
Draußen hatte starker Regen eingesetzt, der böige Wind ließ die Tropfen gegen das Fenster prasseln. Es war eine kalte Oktobernacht, wenige Wochen nach ihrem elften Geburtstag.
I. Teil
Donnerstag, 23. September, 19.40 Uhr
Herbert Lüscher saß in der Küche und betrachtete die Anzeige der brummenden Mikrowelle. Drei – zwei – eins – Pling! Er stand auf, lud die dampfende Pizza auf den Teller und setzte sich auf den einzigen Stuhl in dem kleinen Raum.
Während er kaute, fiel sein Blick auf die trübe, verregnete Welt jenseits des Küchenfensters. Sie war ihm zutiefst zuwider.
Seine Gedanken schweiften zu der kleinen Holzhütte, wo er im Frühjahr wieder Station machen und Fische fangen würde. Nur dort, an diesem abgeschiedenen Ort, fühlte er sich wohl. Nur in der menschenleeren Stille war er frei. Doch bis er wieder aus der verhassten Stadt abreisen konnte, musste er noch einige dumpfe Monate hinter sich bringen.
Nachdem er das letzte Stück Pizza verzehrt hatte, stand er auf, stellte den Teller ins Spülbecken und legte den leeren Karton zu den anderen in den Schrank. Vier Stück. Er würde bald wieder einkaufen müssen. Sein Blick wanderte hinüber zu der kleinen Kuckucksuhr. Ärger wallte in ihm auf, als er feststellte, dass er sich mit dem angesammelten Tagesabwasch beeilen musste, wenn er die Sendung um 20.15 Uhr nicht verpassen wollte.
Schließlich galt es vorher noch einen wichtigen Anruf zu tätigen. Beim Gedanken daran verbesserte sich seine Stimmung augenblicklich.
Freitag, 24. September, 11.00 Uhr
„Verflucht!“, schrie Sabine Kleiber auf und riss ihren Arm hastig zurück. Beim Versuch, einen Teebeutel aus dem Wandschränkchen zu ziehen, war sie zu nah an die Ausgussöffnung des Wasserkochers geraten. Der heiße Dampf hatte ihren rechten Unterarm verbrüht und ließ einen kleinen, roten Flecken auf ihrer Haut zurück.
Während sie die Stelle unter das kalte Wasser des Küchenhahns hielt, klingelte das Telefon. Mit tropfendem Arm ging sie hinüber ins Wohnzimmer und erkannte die Nummer auf dem Display des Wandapparates sofort.
Mit einer Mischung aus Überraschung und plötzlicher Besorgnis nahm sie ab.
„Ja, Sabine hier, was ist los?“
„Mami, ich
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