Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
Bewegungen.
Es gab keinen Zweifel. Er war es.
Der Mann in der Schlange war Herbert Lüscher. Lehrer für Erdkunde und Geschichte am Internat aus Sabines Kindheit.
Freitag, 24. September, 12.30 Uhr
Jürgen Kohlmeyer saß auf seiner Pritsche und warf alle paar Sekunden einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. Obwohl es ihm lächerlich vorkam, konnte er sich nicht dagegen wehren. Eine innere Unruhe, wie er sie lange Zeit nicht mehr erlebt hatte, ergriff Besitz von ihm.
In wenigen Minuten würde er auf den einzigen Mann treffen, zu dem er einen engeren Kontakt außerhalb der Justizvollzugsanstalt pflegte. Dieser Mann hieß Lothar Nienhaus und war seit vielen Jahren sein Anwalt. Heute wollte er ihm offenbar etwas sehr Wichtiges mitteilen.
Als er sich telefonisch angekündigt hatte, hatte Kohlmeyer sofort gespürt, dass es diesmal nicht um ein gewöhnliches Treffen ging. Allerdings hatte sich der Anwalt strikt geweigert, nähere Einzelheiten am Telefon zu nennen.
„Herr Kohlmeyer, Ihr Besuch ist da.“
Die Stimme von Freddy, einem der Schließer, riss ihn aus seinen Gedanken und beendete die quälende Warterei.
Die Zellentür wurde geöffnet, und Jürgen Kohlmeyer folgte dem Mann über die langen, wohlvertrauten Gänge. Dass er dies in bürgerlicher Kleidung und ohne Handfesseln tun konnte, war eines der Zugeständnisse, die er erhalten hatte, als er nach einigen Jahren Haft in diesen Trakt der JVA umgezogen war.
Endlich gelangten sie zu dem kleinen Besucherraum, wo er mit seinem Anwalt allein sein konnte. Durch das Fenster in der Stahltür konnte er vorab einen flüchtigen Blick auf die dicke Gestalt des Mannes werfen, der stets einen hektischen und gestressten Eindruck machte. Auch jetzt wühlten seine Finger in der aufgeklappten Aktentasche. Freddy klopfte kurz an und öffnete. Kohlmeyer trat ein und hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er wusste, dass der Wärter sie die ganze Zeit über im Auge behalten würde.
Lothar Nienhaus stand auf und schüttelte seinem Mandanten die Hand.
„Schön, Sie zu sehen, Herr Kohlmeyer, wie geht es Ihnen?“, begann er das Gespräch, höflich wie immer.
„Ich muss zugeben, ich hab schon deutlich besser geschlafen hier im Garten Eden.“ Kohlmeyer machte aus seinem Misstrauen keinen Hehl. „Ich frage mich, was so schrecklich wichtig ist, dass du alles stehen und liegen lässt, um hierherzukommen. Wenn ich sonst deine Hilfe brauche, dauert es Wochen, bis du aufkreuzt.“
„Herr Kohlmeyer, ich habe Neuigkeiten, die Sie sehr interessieren dürften. Ich weiß, dass es unter Umständen nicht leicht …“
„Verdammt noch mal, jetzt spuckʼs einfach aus!“ Kohlmeyer hatte die Geheimnistuerei satt.
„Na schön“, sagte Nienhaus und nestelte an seiner Brille herum, „wie Sie wollen. Es gibt deutliche Anzeichen, dass … nun ja … ich meine, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte sich jüngst mit einer Klage zu beschäftigen, die Ihrem Fall, wie soll ich sagen, durchaus recht ähnlich …“
„Herrgott noch mal, jetzt reichtʼs!“
Jürgen Kohlmeyer war aufgesprungen und funkelte seinen Anwalt böse an. Erschrocken wich dieser einen Schritt zurück, hob abwehrend die Hände und sprach den Grund seines Kommens unverblümt aus:
„Sie kommen frei. Nicht heute, aber Sie kommen frei.“
Kohlmeyer sank zurück auf seinen Stuhl und betrachtete aufmerksam das rundliche Gesicht seines Anwalts, auf dessen Stirn nun Schweißperlen standen.
„Lothar, jetzt hörst du mir mal zu“, sagte er betont langsam, und Zorn sprühte aus seinen Augen. „Wir kennen uns schon verdammt lange, und ich kann dich ganz gut leiden, aber wenn du mich verarschen willst, wenn das hier ein schlechter Witz sein soll … Ich werde schneller an deiner verdammten Gurgel sein, als der gute alte Freddy auch nur die Klinke runterdrücken kann.“
„Nein, Sie verstehen mich falsch.“
Mit diesen Worten kramte Lothar Nienhaus wieder in seiner Aktentasche und hielt seinem Mandanten mit zittrigen Fingern die aktuelle Ausgabe der Aachener Rundschau entgegen.
„Hier, das ist für Sie.“
Mit einem verächtlichen Schnauben lehnte Kohlmeyer ab. „Erklärʼs mir lieber, aber tu es nicht in deiner aufgeblasenen Anwaltssprache, in Ordnung?“
Wie immer eingeschüchtert von der schroffen Art seines Mandanten, versuchte der Anwalt zunächst, Sicherheit zu gewinnen, indem er eine kleine Zusammenfassung gab.
„Herr Kohlmeyer, Sie sind aufgrund der durch Sie begangenen
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