Schwaben-Filz
Gerichtsmediziner die Leiche bereits begutachtet hatte.
»Ein Herr Dr. …« Er stockte, suchte nach dem Namen.
»Schäffler«, ergänzte sie.
Der Kollege warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Dr. Schäffler, ja«, bestätigte er dann.
»Ich wurde bereits unterrichtet«, fügte sie hinzu.
Er zögerte einen Moment, wies auf den Boden. »Sie möchten …«
Neundorf nickte, ging in die Hocke, zog die Plane von dem Körper. Die Frau schien ihr direkt in die Augen zu schauen. Sie erschrak, atmete tief durch, versuchte sich klar zu machen, dass sie es mit einem leblosen Körper zu tun hatte. Obwohl sie bereits unzählige Male mit dem Anblick von Toten konfrontiert gewesen war – für Momente wie diesen gab es keine emotionslose Routine. So oft sie sich einer Leiche gegenübersah – die Tatsache, dass es sich dabei um einen vor wenigen Stunden noch voll funktionsfähigen Menschen handelte, eine Person, die mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit, dass ihrem irdischen Dasein ein abruptes Ende unmittelbar bevorstehen könnte, war ihr immer bewusst.
»Seit mindestens zwei Stunden tot, meinte der Gerichtsmediziner.«
Die Kommissarin schaute zu dem uniformierten Beamten hoch. »Seit mindestens zwei Stunden?«, fragte sie, auf die Leiche deutend.
Der Mann nickte.
Sie musterte das Gesicht der Frau, nahm die vom Todeskampf verzerrte Miene wahr, die höchste Qual und große Angst zum Ausdruck brachte. Der Mörder musste sie gewürgt und ihren Hals mit seinen Händen umklammert haben, die Spuren waren nicht zu übersehen. Und dann war da noch die große Wunde am Hinterkopf …
»Erwürgt und erschlagen, mehr wollte er nicht sagen. Seine Nummer sei Ihnen bekannt«, erklärte der Beamte.
»Die habe ich im Handy, ja.« Neundorf wandte sich vom Schädel der Toten ab, betrachtete deren seltsame Kleidung. Ein helles, über den Kopf gestülptes T-Shirt, das viel zu eng war und nur bis zu ihren Brüsten reichte, darunter eine grüne Bluse, Jeans und rote Slipper. Nicht gerade der richtige Dress für einen kühlen Herbstmorgen, überlegte sie. War die Frau in größter Not aus dem Haus gerannt, um nach Hilfe zu rufen, hier jedoch endgültig von dem Täter überwältigt worden? Draußen konnte sie sich kaum aufgehalten haben, jedenfalls nicht über längere Zeit, sowohl das T-Shirt und die Bluse als auch die Slipper sprachen dagegen, war Neundorf sich klar. Das helle, nur über den Kopf gestülpte T-Shirt wies zudem darauf hin, dass die Frau gerade im Begriff gewesen war, sich aus- oder anzuziehen, steckten doch beide Arme nicht in den Ärmeln. Vielleicht hatte es am frühen Morgen an der Haustür geläutet, sie war aus dem Bett gesprungen, hatte sich in aller Eile etwas übergezogen und die Tür geöffnet …
Neundorf sah das Motiv des sommerlichen Kleidungsstücks, die Umrisse einer sich räkelnden, jungen Frau mit attraktiven Körpermaßen, las den aufgedruckten Text:
Tu ihn unten rein
.
Sie erkannte es sofort wieder. Eine der widerlichsten sexistischen Darstellungen, die sie je gesehen hatte. Frauenverachtend und primitiv, aus der untersten Schublade. Nur völlig verrohten, von Testosteron-Wolken vernebelten Männerhirnen konnte diese Barbarei entsprungen sein. In den Auseinandersetzungen um den Versuch, den Stuttgarter Hauptbahnhof in zig Kilometer lange Tunnel zu verbannen, war dieses T-Shirt von den Befürwortern verteilt worden. Was war das für eine Frau, die sich freiwillig ein Kleidungsstück mit diesem widerwärtigen Motiv überzog?
Die Kommissarin musste an sich halten, der Toten das Shirt nicht vom Leib zu reißen. Sie schätzte die Frau auf Anfang bis Ende vierzig, soweit das angesichts deren vom Todeskampf in Mitleidenschaft gezogenen Gesichts möglich war. Neundorf konnte es sich nicht vorstellen, dass ein weibliches Wesen dieses doch etwas reiferen Alters sich freiwillig so kleidete. Oder hatte sie es in der nächtlichen Hektik, die unaufhörlich läutende Türglocke im Ohr, aus Versehen in die Hände bekommen?
Neundorf zog ihr Handy hervor, ließ sich mit dem Gerichtsmediziner verbinden. Dr. Schäffler meldete sich schon nach dem zweiten Läuten.
»Frau Neundorf. Guten Morgen.« Seine Stimme klang undeutlich, er schien zu kauen.
»Guten Morgen. Ich hoffe, ich störe nicht allzu sehr.«
»Kein Problem. Ich bin beim zweiten Frühstück. Heute war schon allerhand los. Wo sind Sie?«
»In Reutlingen.«
»Ja, die Frau vor der Haustür.« Dr. Schäffler schluckte, sprach dann weiter, jetzt anscheinend mit
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