Schwaben-Wahn
Rotbackige, »die die Hundertmillione verlanget. Seht ihr net, dass des en Daimler isch, der do im Wasser liegt?«
Braig roch den alkoholgeschwängerten Atem des Mannes, gab keine Antwort. Er glitt an der hageren Gestalt vorbei, überlegte, was den Mann so früh am Tag schon veranlasst haben könnte, zu Bier oder Schnaps zu greifen. Terroristische Erpresser? Auf diese Idee zu verfallen, benötigte es in der Tat eines drastisch hohen Alkoholpegels. Er wartete, bis Neundorf bei ihm angelangt war, und stieg den sanft ansteigenden Waldweg hoch.
»Verrückt, was?«, sagte sie. »Hattest du damit gerechnet?«
»Nie und nimmer. Ich verstehe nicht, was das soll.«
»Als hätte der Schuss in den Kopf nicht gereicht. Wer macht so was?«
»Der Mörder muss von irrsinnigem Hass getrieben sein. Ein Tod ist ihm nicht genug.«
»Warum fuhr er das Auto ins Wasser? Sein Opfer war tot. Wozu dann noch diese Sache hier?«
»Er wollte Aufsehen erregen«, überlegte Braig, »der Tote sollte nicht unbemerkt aus dem Leben scheiden.«
»Eine Art Demonstration? Ist es das?«
»Eine perverse Demonstration der Gewalt. Als wollte der Täter seine Macht und seine Skrupellosigkeit beweisen.«
»Wem? – Beweisen? Uns allen oder einer bestimmten Person?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Kommissar. »Vielleicht ist er krank und will in die Medien. Aufsehen erregen und berühmt werden. Die Journalisten werden sich freuen, wenn sie die Details erfahren.«
Neundorf nickte mit dem Kopf, stimmte ihm zu. »Das wird ein großes Fest. Aber ob das zur Erklärung des Tathergangs reicht?«
Sie hörten das aufgeregte Geschrei mehrerer Leute, die ihnen entgegenkamen, beeilten sich, die Gruppe zu passieren.
»Was isch?«, kreischte ein Mann. »Wirklich en Doter im See?«
Sie gaben keine Antwort, starrten auf den Boden.
»Ha, so was Ofreundliches!«, schallte es hinterher.
»Ich hoffe nur, es dauert nicht zu lange, bis wir den Mörder finden«, sagte Braig, »sonst ›Gute Nacht‹.« Er deutete zurück auf die Menschenmenge hinter ihnen.
Sie vernahmen das Aufheulen eines Automotors irgendwo vor ihnen, hörten ihn in westlicher Richtung verschwinden.
»Eine Frage haben wir uns noch nicht gestellt«, fiel es Neundorf ein.
Braig kickte einen morschen Ast zur Seite, der vor seinen Füßen lag, wandte sich seiner Kollegin zu. »Nämlich?«
»Wie kam das Auto zum See? Der gesamte Rotwildpark hier steht unter Naturschutz. Alle Zugänge sind mit Schranken geschützt, die Wege für Autos gesperrt.«
Braig verstand, was sie meinte. »Wir müssen uns erkundigen, wo eine Zufahrt dennoch möglich ist. Am besten beim Forstamt, die wissen garantiert Bescheid. Anschließend müssen die Techniker ran. Ein unerlaubt in den Park eingedrungenes Fahrzeug wird wohl irgendwo Spuren hinterlassen haben. Mit viel Glück finden wir Zeugen, denen das Auto auffiel. Vielleicht nicht nur das Auto, sondern auch sein Fahrer.«
Sie hatten den höchsten Punkt des Weges erreicht, liefen jetzt steil abwärts. Die Motoren nicht weit entfernt vorbeijagender Autos dröhnten durch den Wald. Braig spürte, wie ihm Schweißperlen den Rücken hinunterrannen, öffnete seine Jacke. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor zehn. Die Temperatur musste die Zwanzig-Grad-Marke längst überschritten haben. Welche Jahreszeit stand im Kalender – war es nicht erst Anfang Mai? Der noch etwas unberechenbare Frühlingsmonat, bekannt für seine ersten lauen Lüfte, sonnige Stunden, aber auch noch kühlen Nächte, die letzten kalten Winde?
»Es ist überraschend warm«, sagte Neundorf.
Braig atmete tief durch, nickte.
»Ich fürchte, wir gehen wieder einem heißen Sommer entgegen«, stöhnte seine Kollegin. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen, trug sie unter dem Arm.
»So wie letztes Jahr?«
Er sah, wie sie mit der Schulter zuckte, dachte voller Schrecken an die stickigen, fast unerträglichen Juni-, Juli- und Augustwochen zurück. Über Monate hinweg hatte die Hitze das Land im Griff gehabt, drückende Schwüle, wie er sie in dieser Ausprägung und Länge nie zuvor erlebt hatte, war zum Albtraum fast aller zur Arbeit verpflichteten Bürger geworden. Kaum ein Tag ohne Temperaturen knapp unter vierzig Grad Celsius, blauer Himmel, ewig strahlende Sonne, weit und breit keine Schatten spendende Wolke am Himmel. Nie zuvor hatte sich Braig mit solcher Inbrunst nach einem kräftigen Tiefausläufer gesehnt, mit intensiven Niederschlägen und frischer Luft. Blumen, Sträucher, Wiesen waren vertrocknet, in
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