Schwaben-Zorn
vorbeigefahren. Eine protzige Villa, doch in typisch schwäbischem Understatement von der Straße her nur zu erahnen. Sie war den Hügel auf der gegenüberliegenden Seite des Tales hochgelaufen, hatte sich seinen Besitz betrachtet. Die Villa, den Pool, das Parkgelände drum herum. Die Praxis, eine kleine Privatklinik, lag einen Steinwurf entfernt.
»Wir kommen an den Mann nicht heran«, hatte sich einer der Kriminalbeamten vor Monaten in einer schwachen Stunde vor ihren Ohren erleichtert.
Weinend war sie in seinem Büro zusammengebrochen, hatte ihm das Leid ihrer Familie geklagt.
»Er hat zu viele Beziehungen. Die Prominenten gehen bei ihm ein und aus. Das Netz hält alles ab.«
Am Sonntagmorgen hatte sie den Gottesdienst in der nahen Kirche besucht, sich dann unter die Besucher gemischt. »Der Doktor kommt nicht?,« hatte sie scheinbar ahnungslos gefragt.
»Der doch net! Der verkehrt in bessere Kreise! Mit dene feine Pinkel könnet mir net mithalte!«
»Dann bekomme ich ihn hier im Ort nie zu sehen?«
»Nur abends kurz nach siebe. Da macht der bei Wind und Wetter seinen Waldlauf. Jeden Tag zur gleiche Zeit!«
Sie hatte sich den Weg genau beschreiben lassen, war ihn abmarschiert, am gleichen Mittag noch im strömenden Regen. Den Hügel hoch über die Wiesen, dann den Waldrand entlang und die steile Böschung aufwärts. An der Steilkante des Berges blieb sie überrascht stehen. Sie starrte hinunter, mehr als einhundert Meter, fast senkrecht, wusste, dass sie den Ort gefunden hatte. Der Weg war nass und rutschig, die Kante nur wenige Armlängen entfernt.
Lisa Neumann trat zur Seite, sah vor ihren Augen, wie es geschehen würde. Abends, nach sieben war es dunkel, stockdunkel im November. Alles, was sie brauchte, war Mut. Sie würde auf ihn zutreten, ihn zur Kante hintreiben und dann zusehen, wie er ins Straucheln geriet …
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