Schwätzen und Schlachten
zurückgelassen hatte. Er war ein Einkaufswagen ohne Münzfach. Es hätte das Münzfach noch eine klitzekleine Chance geborgen, dass ihn schließlich doch noch einer zurückfährt in den Stall, er hätte dann einen gewissen Wert (ein Euro). So aber stand er in der Landschaft, in einem müden Park, er fühlte sich leer und ausgehöhlt und hatte jedes Gefühl für Verwurzelung und Heimat verloren, für ein Zuhause.
Was ist ein Einkaufswagen im Park? Ein traurig Ding.
Ab und an kam einer, packte was in ihn hinein und schob ihn vor sich her, räumte ihn wieder aus und ließ ihn stehen. Leute beispielsweise, die es bequem finden, ihr Gepäck – Picknick-Utensilien oder Obdachlosenhabe – für eine geraume Zeit schieben zu können und nicht tragen zu müssen. Mit ihm konnte man es machen. Frau von Sydow hatte die Sache, also den Nagel, auf den Kopf getroffen. Irgendwann würde er damit aufhören.
In der Zwischenzeit las er die Zeitung. Im Ressort der Deutsch-Französischen Freundschaft gab es einen längeren Artikel über einen elsässischen Meisterdieb, der, seinen eigenen Worten nach, leider an einem Sammelzwang litt.
Ein Kunstsammler, so wurde er zitiert, ist nur glücklich, wenn er das begehrte Objekt endlich besitzt. Aber dann braucht er etwas Neues, verstehen Sie? Wieder und wieder, er kann einfach nicht aufhören, es ist schrecklich.
Bei seiner Verurteilung brach er vor Verzweiflung in Tränen aus, als er vom Staatsanwalt erfuhr, dass seine Mutter (eine pensionierte Damenkonfektionistin) die von ihm entwendeten Kunstgegenstände, wertvolle Teppiche und Bilder, mit ihrer Schneiderschere zerschnitten und im Rhein-Rhone-Kanal bei Mulhouse versenkt hatte.
Neben dem Bericht war ein Kartenausschnitt mit dem Rhein-Rhone-Kanal und dem Städtchen Mulhouse, im Fluss neben dem Städtenamen war ein Kreuzchen und darüber eine kleine rote Schere eingezeichnet.
Der Meisterdieb plauderte sodann noch ein bisschen aus dem Nähkästchen. Es sei, erklärte er dem Staatsanwalt vertraulich, im Grunde gar nicht so schwierig. Beispielsweise der Diebstahl eines begehrten Gutes aus einer Burg oder einem Schloss: Man nehme das entsprechende Bild von der Wand, die Skulptur vom Sockel und rolle sie in den gewünschten Teppich ein, werfe das besagte Stück beherzt aus einem günstig gelegenen Fenster und nehme das Objekt anschließend gemütlich auf dem Weg nach Hause mit.
Die restlichen Artikel der Deutsch-Französischen Freundschaft befassten sich weiträumig mit dem Elsässischen an sich, der ein oder andere beschäftigte sich dementsprechend mit der Frage, ob die Zugehörigkeit von Elsass-Lothringen zu wahlweise Frankreich oder Deutschland nicht noch einmal ganz neu aufgerollt werden müsse.
Statistiken aus der Zeit der Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zum Deutschen Reich wurden herbeigezogen, in denen durch Umfragen das Glück und die Zufriedenheit der elsässischen Bevölkerung erfasst wurden.
Dank spezieller Methoden konnte damals das Alltagsleben besonders gut eruiert werden. Fragestellungen waren in etwa, ob ein Schnauz den Elsässer attraktiver mache, wie schnell ein Elsässer eine Maß Bier austrinke und wie viele elsässische Pärchen dem Geschlechtsverkehr in der freien Natur frönten. Die Forscher befragten nicht nur Personen, sondern notierten auch eigene Beobachtungen, die sie nachts in den Wäldern machten.
Im Vergleich mit späteren Daten waren die Elsässer nie wieder derart glücklich und zufrieden gewesen, der Schnauz ist aus dem elsässischen Straßenbild praktisch gänzlich verschwunden und Geschlechtsverkehr kommt außerhalb der eigenen vier Wände, laut neuesten Erhebungen, fast nicht mehr vor.
Historiker äußerten die Sorge, dass er womöglich gar nicht mehr vorkomme, und prognostizieren eine dramatische Entsiedelung der elsässischen Landschaft.
Ducasse verriet sein Spezialrezept für Flammkuchen, typisch französisch, wie er hinzufügte, Siebeck kochte Sauerkraut, natürlich mit Würsten, und schloss sich damit der Auffassung an, Elsass gehöre eindeutig zu Deutschland, der Elsässer äße genauso schlecht wie jeder dahergelaufene Deutsche.
Stanjic legte die Zeitung weg, schaute müßig hinter die Theke. Es war ihm völlig klar, wozu diese an den Haaren herbeigezogene Elsassdebatte dienen sollte. Die Deutschen und Franzosen suchten in regelmäßigen Abständen Streit, um sich dann umso herzlicher wieder zu versöhnen und ihre gegenseitige Freundschaft hervorzuheben. Spätestens in der übernächsten
Weitere Kostenlose Bücher