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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Stephens
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Der Junge war klein, und er war neu im Waisenhaus, was bedeutete, er musste das schlechteste Bett im Schlafsaal nehmen – das Bett, welches am meisten durchgelegen war, am muffigsten roch und in einer Nische ganz hinten im Raum stand. Und als der Schrei ertönte – ein Schrei, wie ihn der Junge noch nie gehört hatte und der in seine Brust zu greifen und sein Herz zu zerquetschen schien –, war er das letzte der verängstigten, kreischenden Kinder, das zur Tür hinausrannte.
    Am Fuß der Treppe erwartete die Kinder dichter Nebel. Sie wandten sich nach rechts und hetzten durch die weite Halle. Ihre Schritte schallten laut in dem hohen Raum. Der kleine Junge wollte ihnen folgen, als zwei Gestalten aus dem Nebel traten. Sie waren schwarz gewandet und hielten lange, gezackte Schwerter in der Hand. Ihre Augen glühten gelb und sie stanken nach Moder und Fäulnis.
    Der Junge wartet geduckt, bis sie weg waren, und floh dann in die andere Richtung.
    Er rannte, so schnell er konnte. Die Angst saß ihm in der Kehle. Er wusste, dass er weg musste, sich irgendwo verstecken. Irgendwie gelangte er ins Büro des Heimleiters und hörte Stimmen auf dem Gang. Er duckte sich hinter den großen Schreibtisch, die Beine eng an den Körper gezogen.
    Die Tür zum Büro wurde aufgestoßen. Ein Licht ging an. Zwei grüne Hausschuhe kamen ins Blickfeld des Jungen und er hörte den Heimleiter winseln: »Bitte … bitte tun Sie mir nichts …«
    Dann kam die kalte und leicht lispelnde Stimme eines Fremden. »Aber, aber, wofür halten Sie mich denn? Ich will nur drei Kinder.«
    »Nehmen Sie sie! Nehmen Sie drei Kinder! Nehmen Sie zehn, wenn Sie wollen! Nur tun Sie mir nichts!«
    Der Fremde trat näher. Der Fußboden knarrte unter seinem Gewicht.
    »Das ist aber großzügig von Ihnen. Allerdings bin ich auf drei ganz bestimmte Kinder aus. Geschwister, ein Junge und zwei Mädchen. Sie hören auf die liebreizenden Namen Kate, Michael und Emma.«
    »Aber … sie sind nicht … nicht mehr hier. Wir haben sie weggeschickt, schon vor mehr als einem Jahr …«
    Der kleine Junge hörte ein ersticktes Gurgeln und sah, wie die Füße in den grünen Hausschuhen in die Höhe schwebten. Sie zuckten und zappelten. Die Stimme des Fremden war gelassen und gleichgültig.
    »Und wo haben Sie sie hingeschickt? Wo kann ich sie finden?«
    Der Junge hielt sich die Ohren zu, aber immer noch hörte er das erstickte Keuchen und die mörderische, lispelnde Stimme: »Wo sind die Kinder …?«

Kate schrieb den Brief zu Ende, steckte ihn in einen Umschlag, klebte ihn zu und ging dann zu dem alten Baum. Sie hob die Hand und ließ den Brief in den ausgehöhlten Stamm fallen.
    Er kommt bestimmt, dachte sie.
    Sie hatte ihm von ihrem Traum geschrieben, von dem, der sie seit einer Woche jede Nacht aus dem Schlaf riss. Wieder und wieder hatte sie schweißgebadet in der Dunkelheit gelegen und gewartet, bis sich ihr Herz beruhigt hatte, erleichtert darüber, dass Emma, die neben ihr schlief, nicht erwacht war, erleichtert, dass es nur ein Traum gewesen war.
    Nur dass es eben doch kein Traum war.
    Er kommt bestimmt, dachte Kate. Wenn er das liest, wird er kommen.
    Es war ein warmer, schwüler Tag. Kate trug ein leichtes Sommerkleid und flache Ledersandalen. Das Haar hatte sie im Nacken mit einem Gummiband zusammengefasst. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und klebten feucht an ihren Wangen. Sie war fünfzehn und seit dem letzten Jahr ein ganzes Stück größer geworden. Ansonsten hatte sie sich nicht verändert. Mit ihren dunkelblonden Haaren und den haselnussbraunen Augen war sie auffallend hübsch. Aber wenn man sie genauer betrachtete, bemerkte man die Sorgenfalten, die sich in ihre Stirn gegraben hatten, und die verkrampften Arme und Schultern, die sie steif und ungelenk wirken ließen. Ihre Fingernägel waren bis auf die Haut abgeknabbert.
    Im Grunde genommen hatte sich überhaupt nichts verändert.
    Kate stand immer noch neben dem Baum und spielte gedankenverloren mit dem Medaillon, das an ihrem Hals hing.
    Vor mehr als zehn Jahren waren Kate, ihr Bruder Michael und ihre Schwester Emma von ihren Eltern getrennt worden. Sie waren in Waisenhäusern aufgewachsen, von denen einige angenehm und sauber gewesen waren, geführt von Menschen, die freundlich zu Kindern waren. Die meisten jedoch waren unwirtlich und schäbig gewesen, mit Erziehern, die Kinder als lästig und überflüssig betrachteten. Kate und ihre beiden jüngeren Geschwister hatten nie erfahren, warum ihre

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