Schwätzen und Schlachten
gefährliche Paris-Syndrom
Stanjic jedenfalls bedurfte dringlich einer Hebung, ganz egal von was. Er klemmte unter Glasers Sofa und hoffte, Simon würde sich nicht etwa draufsetzen. Er hoffte des Weiteren, Simon würde überhaupt nicht bis ins Wohnzimmer vordringen, er hatte vorhin in der Eile diesen Dings umgeworfen, was war das, Projektor. Es war staubig hier unten, putzte der nicht mehr? Sonst so ein Reinlichkeitsfanatiker. Die Wohnung, hatte Glaser gern gesagt, als Stanjic bei ihm wohnte und er ihm die bekleckerten Geschirrteile hinterhertrug, die von ihm abgefallenen Kleidungsstücke, die zerlesenen Zeitungen, die Wohnung ist der Spiegel der Seele.
Mein Spiegel ist blind, behauptete Stanjic.
Er ist nicht blind, dafür bist du noch zu jung. Er ist dreckig.
Dafür bin ich alt genug?
Dafür bist du zu alt. Darum putz ihn, erwiderte Glaser unerschütterlich.
Wie soll ich das anstellen, fragte Stanjic mit stoischer Regelmäßigkeit, aber auch Glaser war sowohl Stoiker als auch ein Freund aller rhythmischen Wiederkehr.
Fang mit dem im Bad an, schloss Glaser darum jeweils die Debatte ab.
Stanjic hatte damals gehäuft den Badezimmerspiegel gereinigt, sich wöchentlich dem samstäglichen Wohnungsputzen unterworfen und jede zweite Socke selbst aufgehoben und Glaser behauptete, seine Seele bekomme so allmählich sichtbare Züge.
Und jetzt diese Staubmäuse in Glasers Wohnung, die lebten hier schon länger. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was das zu bedeuten hatte, sicher war es etwas Grausiges, womöglich schon psychische Deformation. Es passte natürlich, schlimm genug, zu seinen Befürchtungen, es passte zu dem Schlachten text.
Er lauschte, Simon ging in der Küche herum. Er hörte ihn am Ofen hantieren, er ging ins Bad, Stanjic versuchte sich mit der Erinnerung an die letzte spannende Klopapierinformation von seiner beklemmenden Lage abzulenken, es war um das sogenannte Paris-Syndrom gegangen, das vor allem Japaner befalle, die sich längere Zeit in Paris aufhielten.
Auslöser, hatte es auf dem Toilettenpapier geheißen, Auslöser ist die brutale Konfrontation zwischen der japanischen Harmonie und dem offensichtlichen Chaos in Frankreich. Offene Rede und rüde Witze können instabile Menschen hart treffen, das kann von kleineren Neurosen über Angstzustände bis hin zu halluzinatorischem Delirium oder Paranoia führen. Vor allem junge Frauen sind betroffen, meist Studentinnen. Es wird von den Ärzten der Organisation International SOS in solchen Fällen für eine Überführung der Paris-Verstörten in ihre Heimat gesorgt.
Es lenkte ihn die Überlegung, vielleicht als ehrenamtliches Mitglied der Organisation International SOS beizutreten, hinreichend ab.
Er stellte es sich betörend vor, junge verstörte Japanerinnen mit zärtlich gemurmelten Worten zu beruhigen … ja, würde er murmeln, alles Barbaren, diese infame offene Rede, der perfide rüde Witz, dieses französische Chaos hier, schlimm. Aber bald sind Sie wieder in Sicherheit, Harmonie, würde er murmeln, Japan, Zen, Feng-Shui und Räucherwerk und alles kommt wieder ins Lot.
Er dachte an dankbare Studentinnenaugen, schwarz wie japanische Lackschalen, er dachte an das typische und offensichtliche französische Chaos, beispielsweise in den Betten. Man kannte das aus Film und Fernsehen. In jedem französischen Film sah man mindestens ein hochgradig zerwühltes Grand-lit, Leintücher, Kissen und Decken in wildem Durcheinander von vorangegangen ominösen amourösen Machenschaften, womöglich voller Krümel und Milchkaffeeflecken vom anschließenden, also an die ominösen amourösen Machenschaften anschließenden, Croissant und Café au lait im Bett. Er dachte an die darob verängstigten und syndromhaft verstörten Augen der Studentin, aber bald schon ertönte aus dem Badezimmer ein ernüchterndes Dreschen und Hauen, eindeutig die Produktion von entweder Schlagsahne oder Rasierseife. Vielleicht ging er ja gleich wieder. Simon schien sich derzeit nicht allzu oft in der Wohnung aufzuhalten, immerhin kam er zum Heizen, der Kachelofen im Wohnzimmer war noch warm gewesen, als er ihn vorher angefasst hatte.
Kurz darauf hörte er ihn wieder im Flur, hörte den Schlüssel, den er in die Tasche steckte, die kurze Stille beim Blick in den Spiegel, er hörte Schritte, die Tür, die ins Schloss fiel, er schloss die Augen. Das war knapp. Er zog sich unter dem Sofa hervor und stand auf, klopfte sich den Staub von den Kleidern.
54. Die Probe
Es klingelte,
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