Schwarzer Purpur
»Vielleicht ist alles auf einmal ein bisschen viel …« Nein, ich hatte lange genug in einem Vakuum gelebt. Zu erfahren, dass es ein künstlich erzeugtes gewesen war, wirkte verwirrend und gleichzeitig beruhigend. Es schien mir so unwirklich: Auf einmal war an die Stelle eines gesichtslosen Erzeugers ein Mensch aus Fleisch und Blut getreten. Die Glasglocke, unter der ich gelebt hatte, hob sich. Mir war schwindlig, aber ich sagte mit fester Stimme: »Nein, ich möchte nicht warten.«
Tante Hilde nickte zustimmend, trank ihren Tee aus und verschwand geheimnisvoll lächelnd. Mit einem dicken, in braunes Leder gebundenen Buch kam sie zurück.
»In der Eile habe ich einfach unser Familienalbum gegriffen. Ich habe leider keine Zeit gehabt, die Bilder zu sortieren«, erklärte sie entschuldigend. »Aber einige Bilder von Margarethe und Giuseppe sind natürlich dabei.«
Mit dem braunen Lederband und der Flasche Sherry aus Mutters Kredenz setzten wir uns aufs Sofa und öffneten die Tür zur Vergangenheit.
Mit leicht zitternden Händen schlug ich eine Seite nach der anderen um. Säuglingsbilder, steif wirkende Männer in dunklen Anzügen und mit verhärmten Gesichtern, Frauen in Schürze und Kopftuch.
»Das ist zu früh, blättere weiter. Margarethe ist ein paar Jahre nach mir geboren, und wir haben uns erst später als Schulmädchen immer in den Sommerferien getroffen. Ein Jahr kam sie zu uns, ein Jahr fuhr ich zu ihr. Damals wurde noch nicht so viel fotografiert. – Da! Ich glaube das ist das erste Bild von uns beiden. Das ist zu meinem 16. Geburtstag. Da muss Margarethe zwölf gewesen sein. Unglaublich, wie erwachsen sie schon wirkt, nicht?«
Auf der Schwarzweiß-Aufnahme lächelte unverkennbar Tante Hilde, die dicken Zöpfe zu einer Krone geschlungen. Neben ihr, schon damals kühl und unnahbar, Mutter: die blonden Locken von einem Stirnreif zurückgehalten, die Bluse makellos gebügelt. Ihr zu Füßen ein kleiner Spaniel.
»Sie hatte einen Hund?«, fragte ich ungläubig.
»Nicht lange. Ihr Vater brachte ihn ihr von einer Geschäftsreise mit. Aber er war ein kleiner Tunichtgut. Als er eines Tages ihre Pantoffeln zerkaute, brachte sie ihn stillschweigend ins Tierheim und behauptete, sie sei allergisch gegen Tierhaare.« Ich blätterte weiter. Ein Familienausflug: lachende Gesichter, die übermütige Grimassen schnitten. Tante Hilde kicherte: »Schau, das da sind deine Großeltern, und das dicke Paar sind meine Eltern. Meine Mutter und dein Großvater waren Geschwister.«
Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Neben meinem Großvater wirkten Frau und Tochter kindlich schmal und zerbrechlich. Feen neben einem fröhlichen Wikinger.
Dann tauchten plötzlich Bilder von einem schlanken, dunklen Mann auf. Meist zusammen mit Mutter – einer lächelnden, jungen Mutter. Eine Aufnahme gefiel mir besonders: Er stand hinter ihr und lächelte über ihre Schulter in die Kamera, sie blickte zu ihm auf, die schlanke Hand auf seinen Arm gelegt. Ein schönes Paar.
»Dein Vater betete sie an.« Tante Hildes Stimme klang belegt. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Als sie heirateten, kam seine ganze Verwandtschaft aus Sizilien. Mit einem Reisebus – stell dir das vor! Nette Leute, aber Margarethe fand sie schrecklich: zu laut, zu anstrengend, zu unbeherrscht. Sie weigerte sich, ihre Flitterwochen dort zu verbringen. Giuseppe war tief verletzt, aber er gab nach.«
Die nächsten Fotos von den beiden stammten aus der Zeit der ersten Farbfilme. Verblasst und fremdartig zeigten sie bereits eine Familie, ein Baby im Arm der jungen Frau, der Blick der Mutter eher unangenehm berührt als liebevoll.
Auf dem folgenden Bild hielt der stolze Vater das Kleinkind vorsichtig an den Händen und unterstützte es bei ersten Laufversuchen neben einem Sandkasten. Ich blätterte weiter, aber die restlichen Aufnahmen zeigten ausnahmslos Unbekannte. »Was ist geschehen?«
Tante Hilde zuckte hilflos die Schultern und schloss energisch das Album. »Ganz genau weiß das keiner. Ich war damals mit meiner eigenen Familie beschäftigt. Es gab so etwas wie einen Skandal, weil Giuseppe ein Verhältnis mit einer stadtbekannten lockeren Dame hatte und irgendwie in die Umstände ihres tödlichen Unfalls verwickelt war. Margarethe verlangte die Scheidung und verschwand von einem Tag auf den anderen spurlos. Wir dachten alle, sie wäre vielleicht ausgewandert, weil sie nicht einmal zum Begräbnis ihrer Eltern kam. Die armen haben bis zuletzt gehofft, ihr Enkelkind
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