Lebenslang
M ahler bringt es auch nicht mehr, wirklich. Früher haben ein paar Takte seiner Musik ausgereicht, um mich in die richtige Stimmung zu bringen, doch das Aquarellpapier, das vor mir liegt, bleibt schon seit Tagen weiß. Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich den ersten Strich einer Vorzeichnung genossen, wie Ski fahren in unberührtem Schnee. Aber seit einiger Zeit scheinen Bleistift und Papier dieselbe magnetische Polung zu haben, sie finden einfach nicht zueinander. Auch wenn ich es nicht zugeben will, es fällt mir mittlerweile schwer, die leeren Blätter, die vor mir auf dem vollgeschmierten Tisch liegen, mit etwas Sinnvollem zu füllen. Mir ist die richtige Perspektive abhandengekommen, irgendwie entgleiten mir die Proportionen, als hätte ich von gestern auf heute das Zeichnen verlernt. Dabei muss ich nur ein Kinderbuch illustrieren. Ein Projekt, auf das ich mich freute, weil es so originell ist. Es handelt von einem kleinen rotzfrechen Mädchen, das die Nacht alleine in einem Wald verbringt und die Geister, die dort hausen, das Fürchten lehrt. Obwohl die ersten Monster bereits als Skizzen existieren, schaffe ich es nicht, den letzten Schritt zu machen. Und Mahler, der Schuft, lässt mich im Stich. Ich setze die Kopfhörer ab.
Aus Julias Zimmer höre ich gedämpftes Rufen, dann einen heftigen Streit. Ich drehe mich auf meinem Stuhl um und reibe mir müde die Augen. Die vergangene Nacht war kurz, und vielleicht sind vier Stunden Schlaf zu wenig, um irgendetwas Vernünftiges zu schaffen. Wenn man den ganzen Tag die Müdigkeit wie eine Bugwelle vor sich herschiebt, wird die Konzentration als Erstes von ihr überspült.
Ich schaue auf die Uhr, es ist nachmittags kurz nach halb fünf. Der Streit ist verklungen, dafür höre ich Astrid in der Küche werkeln. In einer halben Stunde kommen die Gäste. Ich nehme die leere Thermoskanne vom Schreibtisch, schließe das Kippfenster und mache mit einem ziemlich unbefriedigten Gefühl Feierabend.
Auf dem Weg in die Küche klopfe ich an Julias Tür und trete ein, als ich keine Antwort erhalte. Das Zimmer ist verwaist. Das Hörspiel, das sie seit zwei Tagen beinahe ununterbrochen hört, hat kein Publikum. Ich drücke die Pausentaste und schaue mich um. Es ist noch nicht allzu lange her, da waren die Wände rosa gestrichen, und auf dem Bett türmten sich die Kuscheltiere. Nun ist es das Refugium eines zehnjährigen Mädchens, das die ersten Poster ihrer Helden aufgehängt hat, Jungs in coolen Posen mit schrecklichen Frisuren und noch schrecklicherem Outfit. Ich muss lächeln. In Julias Alter hat man noch ungestraft das Recht auf einen schlechten Geschmack. Bei mir war es genauso, wieso sollte es also bei meiner Tochter anders sein.
Das Zimmer sieht aus wie ein Notstandsgebiet. Getragene Kleidung liegt auf dem Boden, die Türen des Kleiderschranks sind geöffnet. Ich schließe sie, hebe die schmutzigen T-Shirts auf und trete beinahe auf einen Lippenstift, den ich auf die kleine Kommode zu den restlichen billigen Schminkutensilien aus dem Supermarkt lege. Ansonsten erlaube ich mir nicht, irgendetwas zu verändern.
Im Bad werfe ich die Wäsche in einen Korb und stelle die Thermoskanne auf den weißen Schrank, in dem die Handtücher aufbewahrt werden. Ich hole mir ein Handtuch und aus dem Schlafzimmer frische Unterwäsche, ein neues T-Shirt und eine kurze Hose. Wenn man einer Arbeit nachgeht, bei der man keinen Schritt vor die Tür treten muss und auch sonst wenig mit Menschen zu tun hat, verlottert man ziemlich schnell. Also dusche ich heiß und kurz und rasiere mich zum ersten Mal seit vielleicht einer Woche. Schon sehe ich beinahe aus wie ein Mensch. Erst jetzt schalte ich die Lüftung ein, die so laut ist, dass ich mir seit Ewigkeiten vorgenommen habe, sie auszutauschen. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Aber auch hier nehme ich immer wieder Anlauf und springe dann doch nicht. Es scheint das Thema meines Lebens zu sein.
Astrid bereitet in der Küche einen Nudelsalat zu, ohne Gewürzgurken, die mag ich nicht, und sie nimmt darauf Rücksicht. Das Fleisch zum Grillen hat sie bereits am Abend zuvor eingelegt.
Ich leere den kalten Kaffee aus der Thermoskanne in der Spüle aus und gebe ihr einen Kuss. Sie lächelt nicht, schaut nicht auf. »Du riechst gut. Wie war die Jagd?«
Die Frage ist noch so ein Ritual, denn als wir uns kennenlernten, machte ich gerade für ein Jagdmagazin einige Illustrationen über die Hatz auf Wildschweine.
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