Schwarzer Purpur
sie sich dann zu mir um, streckte mir beide Hände entgegen und sagte freundlich: »Du musst Verena sein. Vermutlich hast du keine Ahnung, wer ich bin? Ich bin deine Tante Hilde, Margarethes Kusine.«
Automatisch ergriff ich die Hände – und wurde in eine überwältigend herzliche Umarmung gezogen. Die kleine Person war erstaunlich kräftig. Ich roch Haarspray und Schmorkraut, fühlte den kompakten Körper, die Wärme, die er ausstrahlte, und musste mich auf einmal zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Ich wusste gar nicht, dass ich eine Tante habe«, stammelte ich unsicher. »Ich dachte immer, wir hätten keine Verwandten.«
Tante Hilde runzelte die Stirn und schüttelte missbilligend den Kopf. »Es war nicht richtig von Margarethe, sich so zu isolieren. Aber ich will sie nicht an ihrem Grab kritisieren. Lass uns die Herren verabschieden, und dann werden wir uns in aller Ruhe beschnuppern. Kannst du mir ein Hotel empfehlen? Ich habe mein Gepäck noch im Taxi.«
Halb betäubt hörte ich mich dem Pfarrer für seine Worte danken, schüttelte dem Zypressenmann die Hand, der leise murmelte, es sei gut, dass ich jetzt nicht alleine wäre, und fand mich Augenblicke später im Schlepptau von Tante Hilde den Hauptweg entlang zum Ausgang gezogen. Im Fond des Taxis, in dem sie ihre Frage nach einem anständigen Hotel erneuerte, fasste ich mich so weit, dass ich ihr versicherte, es sei ausreichend Platz in unserem Haus vorhanden, um sie unterbringen zu können.
Ihr Koffer schien mit Blei ausgekleidet. In der Diele zögerte ich. »Macht es dir etwas aus, in Mutters Zimmer zu schlafen? Wir haben leider kein Gästezimmer …« Wozu auch? Wir hatten niemals Gäste in unserem Haus gehabt.
Tante Hilde schnaubte leise durch die Nase und fand nichts dabei. »Schließlich haben wir als Kinder oft genug in einem Bett geschlafen.« Ihr kritischer Blick erfasste meine tauben Zehen, klammen Finger und die Kälte, die sich unter meinem alten Wintermantel eingenistet zu haben schien. »Ich komme schon zurecht, Kind. Sieh zu, dass du schleunigst warme Sachen anziehst. Es ist niemandem damit geholfen, wenn du jetzt krank wirst.« Mit diesen Worten scheuchte sie mich in mein Zimmer.
Ich duschte so heiß, wie ich es ertrug, und als ich in Wollsocken und meinem wärmsten Pullover nach unten kam, hatte sie bereits den Tisch gedeckt. Aus dem Backofen duftete es nach Apfelstrudel. Tante Hilde war gerade damit beschäftigt, Tee in Mutters Villeroy-&-Boch -Tassen zu gießen, die, solange ich zurückdenken konnte, nie benutzt worden waren.
»Ich habe alles gefunden«, stellte Tante Hilde so zufrieden fest, dass ich den ersten Impuls, gegen das Sakrileg zu protestieren, unterdrückte und gehorsam meine dampfende Tasse aus ihren Händen entgegennahm.
»So lerne ich dich doch endlich kennen«, stellte sie strahlend fest. »Du siehst gar nicht nach unserer Familie aus, viel eher nach Giuseppe.«
Ich fühlte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte, das Blut in meinen Ohren pochte. Mein Leben lang hatte ich über meinen Vater gerätselt – und nun saß mir jemand gegenüber, der so selbstverständlich über ihn sprach, als hätte er ihn gut gekannt!
Meine plötzliche Blässe war Tante Hilde nicht entgangen.
»Ach herrje, hat sie dir das auch verschwiegen?«, fragte sie ungläubig. »Wie hat sie dir denn dein südländisches Aussehen erklärt?«
»Gar nicht.« Als ich alt genug gewesen war, mir darüber Gedanken zu machen, hatte ich schon lange nicht mehr die Unbefangenheit besessen, Mutter danach zu fragen. Mein Vater war ein Thema, das einfach nicht berührt wurde. Das hatte ich sehr früh gelernt.
Vorsichtig stellte ich die Tasse ab. Meine Hände zitterten. Ich hatte das Gefühl, dass meine vertraute Welt um mich herum unkontrolliert schwankte. Alles schien sich aufzulösen, durcheinander zu wirbeln.
Warme Hände schlossen sich tröstend um meine, braune Augen zwinkerten mir aufmunternd zu.
»Entschuldige, ich bin ein Trampel, dass ich so mit allem herausplatze. Ich hätte wissen müssen, dass Margarethe …« Tante Hilde beobachtete mich so intensiv wie eine Krankenschwester einen Schwerkranken, als sie fortfuhr: »Hat deine Mutter nie von deinem Vater gesprochen?«
Mein einfaches Kopfschütteln schien sie zu erschüttern.
»Du lieber Himmel – ich weiß überhaupt nicht, wie ich anfangen soll. Möchtest du jetzt etwas über deinen Vater erfahren, oder sollen wir bis morgen warten?«, fragte sie schließlich behutsam.
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