Schweig wenn du sprichst
in Richtung Barkeeper an. Der verstand nicht und reckte erst einen, dann zwei Finger in die Luft. Jozef antwortete mit zwei Fingern.
»Wir Menschen sind Meister im Ergänzen von dem, was wir selbst gern lesen oder erzählen. Oder wie der andere sein soll. Du setzt Stück für Stück eine für dich akzeptable Version deines Vaters zusammen. Und plötzlich gefällt dir ein Teil in diesem Puzzle nicht und du zweifelst. Du suchst, findest und bist enttäuscht. Du hältst an einem vorgefertigten Bild fest, anstatt dich auf die Tatsachen zu verlassen.«
Der Barkeeper stellte die Gläser vor ihnen auf die Theke.
»Ist es denn nicht normal, dass ein Sohn sich auf die Suche nach der Vergangenheit seines Vaters macht? Von mir aus kann er wer weiß was getan haben. Er bleibt immer noch mein Vater. Ich will ja nur wissen und nicht raten müssen. Das kennst du doch auch, diese Sehnsucht nach Gewissheit.«
»Du müsstest dich mal reden hören, Victor. Nach dem was heute passiert ist, gibt es wohl kaum noch etwas, das du nicht über diesen Teil seines Lebens weißt, aber du bist immer noch nicht zufrieden. Wenn du herausfinden willst, aus welchen Gründen Albert seine Entscheidung getroffen hat, kommst du mit Fakten allein nicht weiter.«
»Also noch mal, klipp und klar: Es geht mir ausschließlich darum, zu wissen und zu verstehen, was der Entscheidung meines Vaters vorausgegangen ist.«
»Kochst du?«
»Fast jeden Tag, warum?«
»Weil man sich beim Kochen erst bewusst wird, wie wenig es braucht, um etwas zu verderben. Wenn man Knoblauch in einem Wok einige Sekunden zu lange anbraten lässt, wird der Rest der Mahlzeit total von einem bitteren Geschmack dominiert. Wenn man hingegen in seinem Leben einmal etwas verdirbt, muss einem das nicht unbedingt das ganze Leben verleiden. Jeder hat das Recht, ab und zu Dummheiten zu begehen, vor allem wenn einem erst später bewusst wird, dass es eine Dummheit war. Es gibt wenige Entscheidungen, von denen man im Voraus weiß, dass sie falsch sind.«
»Du sagst also, dass Albert einen Fehler gemacht hat?«
»Was ich denke, hat keine Bedeutung. Die Geschichte hat bewiesen, dass Albert ziemlich danebenlag. Und die Tatsache, dass er dein Vater war, ändert nichts daran. Wir können höchstens etwas Milde walten lassen, solange sie uns nicht blind macht.«
Victor hörte jetzt erst die Musik und die Stimmen der anderen Gäste. Er sah jetzt erst, dass es dunkel war und die Bar sich gefüllt hatte. »Hör zu«, sagte er. »Albert war kein Mitläufer. Du weißt wie alt er war, als er ’42 wegging. Und er war kein drittrangiger Soldat, der einfach Befehle befolgte. Er war Offizier. Das wurde man im Dritten Reich auch nicht ohne weiteres.«
»Sie brauchten flämische Offiziere, und da Albert ausgebildet war, lag es ziemlich auf der Hand, dass sie ihn in Betracht zogen, nicht wahr?«
»Kann gut sein, aber er hätte sich auch weigern können«, antwortete Victor.
»So war er offensichtlich nicht drauf. Du kannst deinen Vater immer noch nicht so akzeptieren, wie er war. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass es hier nicht um Albert geht, sondern um dich.«
»Ich kann diese Distanz zu den Fakten, wie ein Historiker, nicht aufbringen. Nicht wenn es um meinen Vater geht.«
»Du wiederholst dich, Victor. Etwas Distanz ist die einzige Möglichkeit, dich zu schützen.«
»Ich brauche keinen Schutz.«
»Wir brauchen alle Schutz!«
Victor schwieg. Er sah Jozef an, drehte sich auf seinem Barhocker um und musterte die Menschen um sich herum. Er fühlte sich leer. Er kannte das Gefühl und es machte ihn unruhig. »Ich glaube, dass wir heute Abend nicht weiterkommen. Je mehr wir reden, desto weniger habe ich das Gefühl, dass wir uns verstehen wollen«, sagte er.
Victor spürte, dass er eine Pause brauchte. Sie bezahlten die Rechnung fein säuberlich zu gleichen Teilen und gingen den Weg zurück, ohne viel zu sagen. Sie gingen zur Universität, Victor nahm die Akte mit und dankte Jozef. »Nicht nur für die Akte«, sagte er. »Du hast mich zum Nachdenken gebracht und das wird morgen nicht einfach aufhören, fürchte ich. Weißt du, nicht mal mit meinem eigenen Bruder habe ich jemals so ein Gespräch geführt.«
»Das ist bedauerlich für deinen Bruder«, lachte Jozef. » Nachdenken ist gut. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen, vielleicht emotional weniger aufgewühlt?«
»Emotional ist gut«, sagte Victor und lachte, als er Jozefs Hand
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