Schweig wenn du sprichst
verständnislos an. »Sie hatte eine Beziehung. Die Folge davon sitzt doch hier neben dir, aus Fleisch und Blut!« Er wartete kurz, so als müsste er nachdenken. »Sie hatte verdammt noch mal einen Mann! Aber sie konnte ihn nicht berühren, nicht mit ihm sprechen, er war nicht im Haus, er lag nicht neben ihr im Bett und brachte keinen Monatslohn nach Hause. Sie hatte sehr wohl eine Beziehung, so wahr ich einen Vater hatte.«
Victor sah, dass Jozef sich aufregte. Er schwieg und nahm sich eine Speisekarte.
»Du hast mich vorhin auf dem Weg hierher gefragt, ob ich böse sei, weil ich meinen Vater nicht gekannt habe«, sagte Jozef. »Jawohl, ich war außer mir. Aber es war schwierig, diese Wut an jemandem auszulassen, der nicht da war, den ich noch nicht mal kannte. Und ich konnte nur vermuten, dass er die Ursache für das war, was sich jahrelang im Gesicht meiner Mutter abgespielt hat. Und ich konnte dabei nur zusehen und versuchen, ihr den Mann zu ersetzen, so jung ich auch war. Einer, an dem sie etwas hatte und der sie liebte, so sehr ein Sohn dazu überhaupt in der Lage ist.«
»Tut mir leid«, sagte Victor. »Das geht mich eigentlich nichts an. Lass uns das Thema wechseln.«
»Nein! Nein. Ich habe den emotionslosen Geschichtsprofessor in der Universität gelassen. Im Gegenteil, ich finde es schön, mal mit einem anderen Mann sprechen zu können. Eine absolute Premiere für mich, glaub mir. Vielleicht kommt es daher, dass du deinen Vater eigentlich auch nicht wirklich gut gekannt hast.«
Victor stieß mit Jozef an. Sie starrten vor sich hin.
»Als du mich vorhin nach dem Grund meiner Suche nach Albert gefragt hast, ist mir plötzlich klar geworden, dass ich ihn schrecklich vermisse.«
»Glaubst du, dass ich jemals aufgehört habe, mich nach meinem Vater zu sehnen? Hast du jemals aufgehört dir zu wünschen, dass dein Vater noch am Leben wäre? Das hört nie auf. Naja, wir sitzen hier zusammen wie zwei alte Knacker.« Jozef nahm die beiden Speisekarten. »Weißt du schon, was du bestellen möchtest?« Er gab eine davon Victor.
»Eigentlich nicht, nein.«
»Ich esse hier immer dasselbe.«
»Dann schließe ich mich an.«
Jozef nickte dem Barkeeper zu, bat um Fischsuppe für zwei und tippte gegen sein Glas, um noch eine Runde zu bestellen.
»Darf ich dich noch eine Sache über Väter fragen?«, sagte Victor.
»Frag nur. Niemand fühlt sich durch unser Gejammer belästigt, und mir geht es gut dabei.«
»Kann man jemanden vermissen, den man nicht kennt?«, fragte Victor.
Jozef dachte nach. »Ich kann nur für mich allein sprechen. Ich habe vor allem einen Vater vermisst. Ich konnte mir darunter kaum etwas anderes vorstellen als das, was ich bei Freunden sah. Ich hatte keine spezifische Sehnsucht nach einer bestimmten Person. Ich hatte kein genaues Bild vor Augen, wie er aussehen musste. Es wurde so schlimm, dass mir egal war, wer er war, wenn ich nur einen Vater hatte. Markus ist für mich am nächsten an einen Vater herangekommen und es hat lange gedauert, bis ich mich von seinem Weggehen erholt hatte.« Jozef sah wieder vor sich hin und trank. »Damals beschloss ich, dass niemand mich jemals vermissen sollte.«
»Wenn ich diese Einstellung hätte, dann wäre Moira nie geboren worden«, sagte Victor.
»Was ist Markus für ein Mann?«, fragte Jozef.
»Markus ist eine starke Persönlichkeit. Stark und sehr dominant. Ich sehe ihn natürlich anders als du. Er ist in erster Linie der Großvater von Moira und der Vater von Lilly. Aber er ist jemand, der – auch jetzt noch – eindeutig der Umgebung seinen Stempel aufdrückt.«
»Wie war dein Vater?«
»Stark und sehr dominant«, sagte Victor. »Jemand, zu dem ich erst kurz vor seinem Tod eine besondere Verbindung zu spüren begann. Etwas, das über die Vaterschaft hinausging. Die Leute sagen, Eltern und Kinder sollten nie wirkliche Freunde werden, zwischen ihnen müsse immer ein bisschen Distanz bleiben. Ich sah das anders. Ich war auf der Suche nach dem Freund in Albert. Und das fing gerade an ein bisschen zu funktionieren, aber er hat mir die Zeit nicht gegeben. Er hat sich selbst die Zeit nicht gegeben.«
Der Barkeeper stellte zwei Teller vor ihre Nasen. »Ich bringe sofort Besteck und Brot«, sagte er.
»Kannst du bitte zwei Gläser Pinot Grigio bringen?«, fragte Jozef. »Ist Weißwein okay für dich?«
»Lieber roten«, sagte Victor.
»Einen Pinot Grigio und einen Merlot.«
Sie warteten auf ihren Wein, stießen an und tranken.
»Wirfst du deiner
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