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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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Frau, die dich begehrte?«
    »Ein paar Mal. Solange ich vor meinen Studenten im großen Auditorium stehe, fühle ich mich stark. Aber sobald ich nach draußen gehe, bin ich der größte soziale Stümper, den man sich vorstellen kann.«
    »Das glaub ich nicht. Du sprichst von früher«, sagte Victor.
    »Du glaubst mir nicht, weil du mich auf eine andere Weise betrachtest. Aber glaube mir, flotter Umgangston, originelle Eröffnungssätze und charmanter Stil, das alles ist mir nicht gegeben. Ich habe es nicht, ich kann es nicht und ich bin inzwischen so weit, dass ich es wohl auch nicht mehr möchte.«
    »Aber es braucht doch jeder jemanden an seiner Seite.«
    »Das dachte ich auch. Aber ich habe mich damit abgefunden. Und in meinem Alter schauen sich die Frauen, die mich eventuell noch interessieren würden, nicht mehr nach einem Mann in den Fünfzigern mit schlechten Manieren um.«
    Sie sahen sich lachend an. Dann folgten sie der Straße weiter und verlangsamten ihren Schritt. Jozef öffnete die Tür eines Lokals, das Victor wiedererkannte. Er ließ Jozef vorgehen. »Dass es das überhaupt noch gibt. Es hat sich kein bisschen verändert.«
    »Gute Orte verschwinden nie.«
    Jozef ging direkt auf die Barhocker zu. Victor zog seine Jacke aus, hängte sie an die Garderobe, setzte sich und brach in Lachen aus.
    »Stilles Vergnügen?«, fragte Jozef.
    »Nein, schau, was auf der Bar liegt.«
    Es lagen zwei Päckchen Gauloises ohne Filter auf der Theke, ein Telefon auf jedem Päckchen, ein kleines Feuerzeug und ein paar Stücke Kleingeld neben jedem Telefon. Jozef lachte. Victor sah sich in der Bar um, erkannte aber niemanden vom Personal. »Ich liebe diesen Ort«, sagte Victor.
    »Warst du hier schon mal?«
    »In meinem früheren Leben. Damals war ich bestimmt drei Mal pro Woche hier. Und das bedeutete jedes Mal, randvoll nach Hause zu wanken.«
    »Hattest du einen Grund dafür?«
    »Ich brauche nicht immer einen Grund dafür.« Er schaute Jozef an und erkannte Lucys graue Augen.
    Jozef nickte sanft. »Der süße Rausch. Der Radiergummi, der alles ausradiert. Das Ertränken der Vergangenheit. Der Blackout von heute.« Jozef lehnte mit beiden Ellbogen auf der Bar und betrachtete eine Weile sein Gesicht, zwischen den Flaschen und Gläsern hindurch, im Spiegel gegenüber. »Meine Mutter und ich hatten es anfangs sehr schwer. Wir hatten nichts.«
    Victor dachte zuerst, dass Jozef mit seinem Spiegelbild sprach.
    »Ist es in Ordnung, wenn ich darüber rede?«
    »Ich möchte dich besser kennenlernen, also bitte …« Victor machte eine einladende Geste.
    »Wir waren total von den Leuten im Dorf abhängig, vom Pastor, von dem bisschen Geld, das sie bekam, wenn sie im Krankenhaus aushalf. Ich war umgeben von Leuten, die Mitleid mit uns hatten, wenngleich nicht immer aus den richtigen Gründen.«
    »Einen Wodka Tonic, bitte«, sagte Victor. Der Barkeeper nickte.
    »Ich auch.«
    »Wovon habt ihr denn all die Jahre gelebt?«
    »Von der ›Stütze‹, wie sie das hier nannten, bis ich siebzehn war. Ich trug Kleidung, die die Jungs aus meiner Schule in den Jahren davor getragen hatten. Ich erkannte die Hosen und Pullover, wenn wieder eine ihrer Mütter zu uns nach Hause kam. Ich hatte das Gefühl, dass sie mehr an meiner Mutter als an mir interessiert waren. Sie konnten sie nicht einordnen, wussten nicht allzu viel über sie und waren einfach neugierig. Vielleicht wollten sie sich vergewissern, dass diese schöne, alleinstehende Frau in Ordnung war, dass sie keine Bedrohung für sie darstellte und nichts mit ihren Männern vorhatte.« Jozef zündete eine Zigarette an. »Ich lief dann einige Tage später in der Schule mit einer kurzen Hose herum, die meine Mutter ausgebessert hatte, und die der Junge, der sie vor mir getragen hatte, wiedererkannte, aber natürlich laut und voller Hohn. Angenehm war das nicht, das kann ich dir versichern.«
    Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, drehte sich halb um und sah Victor in die Augen. »Hast du jemals etwas von deinem Bruder tragen müssen oder von jemandem, der dich kannte?«
    »Nicht dass ich mich erinnere.«
    »Tu es deinen eigenen Kindern nie an! Ich sage dir, in diesem Alter gibt es nicht Erniedrigenderes.«
    »Selbst wenn deine Mutter keine Alternative hatte?«
    »Selbst dann.«
    Der Barkeeper öffnete die kleinen Speisekarten vor ihnen und fragte, ob sie etwas essen wollten.
    »Hat sie denn nie eine Beziehung gehabt? Einen Mann, auf den sie zurückgreifen konnte?«
    Jozef schaute ihn

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