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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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fallen. Staub wirbelte empor. Weil er die Spülung nicht betätigt hatte, zog der strenge Geruch von Urin durch die Zelle.
    Er zeigte erneut die Nikotinbeißerchen: »Fickst du gerne?«
    Philip starrte seinen Zellengenossen an. Er war unrasiert und kahlköpfig, aber was hatte das schon zu sagen, Philip war es auch. Trotzdem war das Milieu, in dem sich sein Zellengenosse heimisch fühlte, zweifelsfrei zu erkennen. Beide Arme waren mit Tattoos übersät. Keine filigranen Muster, von echten Künstlern entworfen und mit Maschinen gestochen, wie sie von den Kids in Kreuzberg und Friedrichshain getragen wurden. Die Tätowierungen dieses Mannes waren schmierig und verwaschen. Kreuze. Flammende Herzen. Ein Anker. Sogar ein Hakenkreuz machte Philip in dem Sammelsurium aus. Knasttattoos. Was auch seine ungenierte Notdurft erklärte. Knastgewohnheit. Wenn es daran einen Zweifel gab, widerlegte ihn das Gesicht. Auf der fahlen Haut stachen die drei kleinen schwarzen Punkte auf dem linken Tränensack ganz besonders hervor. Neben dem rechten Augenlid rankte sich mehre Millimeter zur Braue hinauf ein stilisierter Stacheldraht.
    Fickst du gerne?
    Philip verspürte wenig Lust, sich über sein Sexleben zu unterhalten. Und mehr noch: Er hatte keinerlei Interesse daran, überhaupt Konversation zu betreiben, nicht mit diesem windigen Ganoven, aber auch mit niemandem sonst. Er wollte nachdenken. Eine Lösung finden.
    Sein Zellengenosse sagte: »Okay, wenn du nicht gerne fickst, dann halt einfach die Schnauze.«
    »Klar, natürlich, entschul…«
    »Ja, schon gut«, unterbrach er gereizt. »Aber ich würde jetzt gerne noch ein Mütze Schlaf nehmen, ist das okay?«
    Philip schluckte die Antwort hinunter und beschränkte sich auf ein Nicken. Der Mann zog sich die Decke über den Kopf. Philip blieb regungslos sitzen. Auch wenn er seit mehr als 24 Stunden auf den Beinen war, an Schlaf mochte er nicht denken. Nicht mit dem Gestank von Urin in der Nase, nicht in einem Raum mit diesem verrückten Kriminellen. Außerdem wirbelten tausend Gedanken durch seinen Kopf. Dazu die Worte seiner Großmutter in einer Endlosschleife. Ich passe auf dich auf. Wer weiß, möglicherweise hatte sie das getan. Aber er hatte seine Zweifel, dass sie es immer noch tat.
    »Ach, scheiße, jetzt kann ich nicht mehr schlafen«, schimpfte es unter der Decke hervor. Das Gestell der Pritsche quietschte, als er sich auf der Matratze herumwälzte. Er warf die Decke von sich und richtete sich auf. Erleichtert stellte Philip fest, dass er sich die Hose wieder hochgezogen hatte.
    »Sorry«, meinte er. »Ich wollte dich nicht wecken. Ich hab dich nicht gesehen.«
    »Du willst mich verarschen, oder? Ich geb ja zu, ich bin kein Riese, aber so klein bin ich auch nicht, dass man mich übersehen kann.«
    »Nein, wirklich, ich war in Gedanken.«
    Der Mann zog die Augenbrauen skeptisch zusammen, der Stacheldraht wuchs bis zur Mitte seiner Stirn. Er musterte Philip von oben bis unten und kam dann offenbar zu dem Ergebnis, dass dieser die Wahrheit sprach.
    »Ich bin Carlos«, sagte er versöhnlich.
    Philip besah sich das grauschwarze Patchwork auf Carlos Unterarmen. Es verschlang Haut und Haare, machte Falten unsichtbar. Über den Bund seiner Hose wölbte sich der Bauch. Schwierig zu schätzen, wie alt Carlos sein mochte. Er sah nicht aus wie ein Spanier oder Mexikaner, eher wie ein bleicher Grufti aus Marzahn. Aber wer wusste schon, welche Gründe Eltern ins Feld führten. Philip nannte ihm seinen Namen.
    »Philip«, wiederholte Carlos. »Okay, merk dir das fürs nächste Mal, wenn sie dich wieder einlochen…«
    »Es gibt kein nächstes Mal«, fuhr Philip grantig dazwischen.
    Carlos lachte auf. In den meisten seiner gelben Zähne saßen dunkle Füllungen. »Das sagen sie alle. Und dann sitzen sie schon bald wieder im Bau.«
    »Ich aber nicht.«
    »Meinst wohl, du bist einer von den Burschen, die solide werden? Wärste wohl gerne, wa?« Er hob die Augenbrauen und der Stacheldraht zog sich in die Länge. »Merks dir einfach: Mach hier kein Palaver. Denn beim nächsten Mal hast du Pech, und nicht ich lieg unter der Decke, sondern so ein Riese, dem schon lange einer abgeht, und der deinen edlen Arsch für sich beansprucht.«
    Jetzt fiel der Groschen. Fickst du gerne?
    Eine Weile schwiegen sie. Draußen auf dem Flur waren Schritte zu hören, irgendwo drohte jemand, dem diensthabenden Beamten den Schädel einzuschlagen, sollte er nicht schleunigst die Zellentür öffnen.
    Philip ging zur

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