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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Wen wunderte es, dass sie dagegen Protest erhoben?
    Trotz der Kopfschmerzen musste Philip lächeln. Er strengte eine Unterhaltung an. »Haben Sie viel zu tun?«
    Der Professor warf einen Blick über die Schulter, während er in einen weiteren Gang bog. Er kannte sich blindlings aus. »Oh ja, wir haben viel zu tun in dieser faszinierenden Stadt.« Sein Gesicht war tiefbraun dank einer künstlichen Sonne, die auch im Herbst und Winter strahlte. Niemand würde ihn mit den Verstorbenen verwechseln.
    »Wird so viel getötet?«
    »Nein, wo denken Sie hin«, entrüstete sich der Mediziner. »Berlin ist eine Großstadt, die größte Deutschlands. Dementsprechend hoch ist die Sterberate. Aber wurden deshalb alle, die tot sind, umgebracht? In dieser riesigen Stadt gibt es ein unglaubliches Potential an immer neuen pathologischen Fragestellungen. Tatsächlich sind viele unserer Fälle so skurril, dass sie vermutlich keiner glauben würde. Die besten Geschichten schreibt eben doch das Leben – oder der Tod.«
    Philip glaubte es ihm aufs Wort. Noch viel mehr konnte er sich allerdings vorstellen, dass sein Kumpel Ken helle Freude an einer Unterhaltung mit dem Mediziner haben würde. Wenn das hier alles vorüber war, würde er die beiden einander vielleicht vorstellen.
    »Hier sind wir«, unterbrach Professor Wittpfuhl oder Fitwuhl seine Gedanken.
    Vor ihnen erstreckte sich eine weitläufige Halle, beinahe so groß wie ein Basketballfeld. Mit ihren weißen Kacheln hätte sie andererseits auch den Duschraum in einem Sportcenter abgeben können. Tatsächlich war sie aber das Wartezimmer zur Obduktion, von einer unsichtbaren Klimaanlage in die erforderliche Temperatur versetzt. Trotzdem war es hier drinnen wärmer als draußen.
    Ein Dutzend Liegen stand in zwei Reihen. Über jeder Bahre lag ein Tuch ausgebreitet. Die Köpfe und Körper der Leichen waren verdeckt, nur die nackten Füße ragten heraus. Um die Zehen hingen kleine Bindfäden mit je einem Etikett.
    Eine Tür führte in den Nebenraum, den eigentlichen Obduktionssaal. Der Raum war leer, doch Philip erkannte den Tisch mit den Abflussrinnen, die Messer und Scheren. Er war sich unschlüssig, was beklemmender war: der Anblick der Maschinen, mit denen der Professor in den toten Körpern herumfuhrwerkte, wenn er nicht gerade Angehörige durchs Gebäude führte, oder die toten Körper unter den Tüchern selbst.
    »Es tut mir Leid«, sagte Wittpfuhl, als er Philips verstörten Blick bemerkte. Er eilte zu der Tür und drückte sie ins Schloss. »Aber ich habe Sie gewarnt.«
    Bruchstückhaft sickerten Worte ihrer Unterredung durch das Schädelbrummen. Sie können ihrer Großmutter auch morgen beim Bestatter die letzte Aufwartung machen.
    Doch natürlich ging es nicht nur um die Aufwartung. Es ging vor allem darum, sich zu überzeugen, dass… Fitwuhl baute sich hinter einer der Bahren in der Leichenhalle auf. Philip konnte nicht erkennen, wer die Person unter dem Leichentuch war.
    »Bitte«, sagte Philip.
    Der Professor hob mit einstudierter Eleganz das Laken an. Zum Vorschein kam eine unglaublich alte Frau. Sie hielt die Augen geschlossen, aber ihr eingefallenes Gesicht war dennoch eine Maske voller Schrecken – ihren letzten Atemzug hatte sie in heller Panik getan. So sieht ein Mensch aus, der gerade Zeuge geworden ist, wie die Stoßstange eines PKWs den Schädel eines guten Freundes zermalmte.
    Mit einem Mal waren Philips Kopfschmerzen fortgeblasen. Er starrte auf den toten Körper hinab, der gar nicht wie seine Großmutter aussah.
    Wittpfuhl fühlte sich in die Pflicht gerufen. »Ich werde Sie einen Augenblick mit ihr alleine lassen.«
    Nachdem der Pathologe den Raum verlassen hatte, betrachtete Philip die Frau auf der Bahre: die gichtgelben Hände, kranke Finger, ihre schmalen Wangen. Natürlich war sie seine Großmutter, daran ließ auch ihr Kopf keinen Zweifel, der in einem unnatürlichen Winkel vom Körper abstand. Es war wie in seiner Vision. Er hatte es vorausgesehen.
    Der Tod hatte sie erreicht. Aber was hatte sie gesehen, dass der Schrecken sich so tief in ihr Gesicht gegraben hatte?
    Es ist viel schlimmer.
    Die Antwort auf diese Frage hatte mit ihm zu tun. War er für ihren Tod verantwortlich? Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte behutsam ihre Finger. Ihre Nägel waren dreckig, gezeichnet von einem Leben in Entbehrung und Einsamkeit. Und Verzweiflung. Wo war der Stolz geblieben, den sie auf dem Foto zur Schau getragen hatte?
    Ihm wurde warm ums Herz. In

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