Schwester der Toten
nicht in den Griff bekommen, geht bald gar nichts mehr.«
»Es geht jetzt schon nichts mehr«, meinte der Arzt. »Nur zwei von fünf Kollegen haben es heute zum Dienst geschafft. Es fahren kaum noch Bahnen.«
»Mistwetter«, wiederholte der Mann. Dann wechselte er das Thema. »Wo liegt sie?«
Philip wusste die Stimme nicht einzuordnen, obwohl ein Teil von ihm beharrlich darauf bestand, dass es wichtig sei, sich daran zu erinnern. Noch immer wirbelte der Raum im Kreis. Er schloss die Augen, holte Luft. Er rechnete nicht damit, dass die Visionen irgendwann wieder von ihm weichen würden, selbst wenn er eine Erklärung für sie finden konnte. Er würde sich an sie gewöhnen müssen.
»Warten Sie«, sagte Wittpfuhl im Raum nebenan. Ein Leichentuch raschelte.
»Mein Gott!«, stöhnte der Besucher.
»Der hilft ihr auch nicht mehr«, meinte Wittpfuhl bitter.
Schweigen. Dann fragte der Mann: »Was ist eigentlich passiert? Hier sieht es aus wie…«
»Nichts, nur ein kleiner Unfall.« Einige der Liegen wurden mit einem metallischen Geräusch zurechtgerückt.
Der Mann klang besorgt. »Ist Ihnen etwas passiert?«
»Nein, mir nicht.«
»Wer ist die alte Frau dort?«
»Eleonore Berder.«
»Wie ist sie gestorben? Sieht auch nicht schön aus.«
»Selbsttötung.« Wieder raschelte ein Tuch. Wahrscheinlich breitete Wittpfuhl das Laken über seine Großmutter aus. »Ihr Enkel ist hier«, sagte er.
»Ihr Enkel? Wo?«
»Er liegt nebenan.«
»Er liegt?«
Wittpfuhl seufzte. »Der Anblick war wohl zu viel für ihn.«
»Immer diese jungen Leute«, hüstelte der Mann nachsichtig. Jemand durchquerte die Leichenhalle. Philip war sich nicht sicher, ob er auf neugierige Besucher vorbereitet war. Am liebsten hätte er nach einem Leichentuch gegriffen und es über sich geworfen. Aber es lag keines in der Nähe.
Der Mann betrat den Raum. Philip drehte den Kopf von der Tür weg. Vielleicht würde der Mann dann wieder gehen. Er kam näher. »Meine Tochter ist da ähnlich, Sie meint auch, Sie hätte…« Der Mann schwieg. »Sieh einer an«, ließ er dann plötzlich ganz nah an Philips Ohr vernehmen.
Erwischt! Inspektor Columbo beugte sich über ihn. Berger, Kommissar Berger. Verknitterter Anzug, Schnurrbart mit Wirbel. Irgendwie hatte er im Durcheinander der letzten Stunden vollkommen vergessen, dass er auf der Flucht war.
»Wie kommen Sie hierher?«, fragte Philip. Es war nur ein dürres Hauchen.
»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen.«
Philip schwieg zähneknirschend. War es Zufall, dass der Kommissar ausgerechnet jetzt hier auftauchte?
Berger schien den gleichen Gedanken zu haben: »Manchmal gibt es erstaunliche Zufälle, nicht wahr?« Er lächelte gezwungen. »Also? Was machst du hier? Für einen jungen – Mann, der behauptet, unschuldig zu sein, wirst du für meine Begriffe verdächtig oft in der Nähe von Leichen aufgegriffen.«
Vielleicht war es mehr als ein Zufall. Möglicherweise war es eine Chance. Kam ihm das Schicksal zu Hilfe, wie so oft in den vergangenen Tagen? Philip setzte sich auf und sagte mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte. »Ich bin unschuldig. Sie müssen mir glauben.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil es so ist.«
»Jemand, der nichts zu verbergen hat, flüchtet nicht.«
»Ich habe nichts zu verbergen«, keuchte Philip. Zumindest nichts, was für einen Polizisten von Interesse wäre. Er überlegte kurz. Dann setzte er alles auf eine Karte: »Ich kann Ihnen helfen!«
»Sie?«
»Sie suchen ein Mädchen, oder?«
Berger zwirbelte nachdenklich seinen Bart. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
»Sie heißt Lisa?«
Zum ersten Mal gewann Philip den Eindruck, dass Berger kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. »Was wissen Sie über sie?«
»Nicht viel.«
»Verdammt, reden Sie!« Seine Stimme stieg einige Oktaven.
»Was ist mit ihr?«, fragte Philip stattdessen »Wo ist sie?«
Bergers Augen funkelten böse. »Sie ist tot«, presste er hervor.
Das kann nicht sein. Das durfte nicht sein. Er hatte doch diese Fähigkeit. Warum hatte er ihr nicht helfen können? Warum funktionierte es diesmal nicht?
»Was wissen Sie über sie?«, wiederholte Berger.
»Was ist mit ihr passiert?«
»Das kann ich Ihnen sagen.« Der Kommissar packte Philip am Jackenärmel.
»Nein!«, schrie Philip auf. Seine Augen weiteten sich. Doch es passierte nichts. Keine Schreckensvision. Berger schien ein friedlicher Tod im Bett zu erwarten. Er zerrte ihn von der Bahre herab und in die
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