Schwester Lise
wirklich daran, allmählich wieder in den Süden zu gehen, wenn nur - “
„Wenn und wenn - kommen Sie, Hoek, und wenn Sie nichts finden, das Ihnen mehr zusagt: Ich kann hier einen Oberarzt gut gebrauchen. Aber sagen Sie mir doch mal eins, was sagt denn Ihre -großer Gott!“
Beide Ärzte fuhren hoch. Ein Schrei durchschnitt die Luft. Die Leiter gegenüber schwankte, neigte sich auf die Seite, Sekunden später lag der Mann unbeweglich auf dem Gartenweg.
An der Haustür stießen sie auf eine weinende, zu Tode erschrockene Frau. Ein kurzes Hin und Her - nach zwei Minuten war der Mann ins Aufnahmezimmer gebracht.
Er war leichenfahl im Gesicht und stöhnte. Halfdan fühlte den Puls und warf Brattholm einen besorgten Blick zu.
Brattholm untersuchte mit behutsamen, geübten Händen. Als er die linke Seite des Rückens abtastete, wimmerte der Patient.
Brattholm war fertig.
„Innere Blutungen“, sagte er kurz. Dann wandte er sich an Schwester Ellen. „Bringen Sie eine Urinprobe ins Labor.“
Halfdan folgte ihm in den Operationssaal. Er benutzte die paar Minuten, bis Schwester Ellen zurückkehrte, diesen idealen Arbeitsraum mit seinen schimmernden Gläsern, dem großen, kostbaren Mikroskop, den Schränken mit jedem erdenklichen Zubehör für jede Art von Untersuchung zu bewundern - reichlich Platz, Oberlicht, Steckdosen an allen Ecken -, bei Gott, das war etwas anderes als das dunkle Sprechzimmer in Frostviken mit der Petroleumlampe und das „Verlies“ mit seinen Einfärbstoffen und dem Petroleumapparat zum Auskochen der Instrumente.
Schwester Ellen kam mit der Probe - eine trübe, mit Blut gemischte Flüssigkeit. Halfdan untersuchte sie.
„Offenbar Nierenriß, Herr Kollege.“
„Dachte es mir ja schon. Wollen Sie assistieren, Hoek?“ „Natürlich, gern!“
„Schnell den Operationssaal herrichten, Schwester Ellen! Sagen Sie Schwester Lise Bescheid.“
„Schwester Lise hat heute ihren freien Tag, Herr Doktor.“ „Verflixt und zugenäht! Dann müssen wir Schwester Kirsten nehmen. Aber es muß alles gehen wie der Blitz.“
Brattholm und Hoek zogen sich um und wuschen sich. Und wieder konnte Halfdan die Arbeitsverhältnisse bewundern. Man wusch sich nicht im Operationssaal selbst, wie Halfdan es von früher gewohnt war. Wand an Wand mit dem Operationssaal war ein schimmernder weißer Waschraum eingerichtet. Da gab es Schränke mit Behältern für die sterilen Schürzen und Kappen, da gab es Schubfächer mit geschlossenen Glasbehältern, in denen die sterilen Gummihandschuhe bereitlagen. Da gab es desinfizierende Flüssigkeiten in Reih und Glied auf Glasborden. Halfdan unterdrückte einen kleinen neidischen Seufzer.
Unterdes bemühte sich Schwester Kirsten, den Operationssaal in Ordnung zu bringen. Sie besaß nicht Schwester Lises unerschütterliche Ruhe. Ihre Bewegungen waren hastig und nervös.
Schwester Ellen warf einen Blick aus dem Fenster. Eine kleine Gestalt ging mit müden, langsamen Schritten durchs Gartentor.
„Gott sei Dank. Da kommt Schwester Lise!“
Der Patient hatte Narkose bekommen. Schwester Lise stand auf ihrem Platz neben dem Instrumententisch. Alles war bereit. Sie hatte sich in Windeseile umgezogen. Ihr schwarzes Haar war von der schneeweißen Kappe verdeckt, an ihren Händen trug sie
Gummihandschuhe und vor Mund und Nase eine Maske. Nur die Augen waren frei, und die waren aufmerksam und wach.
Jetzt kam Brattholm in der gleichen schneeweißen Hülle, und hinter ihm - großer Gott! Das war ja gar nicht Stoffer! Wer war denn das? Sah sie Gespenster? Gab es denn noch einen Menschen auf der Welt mit dieser Gestalt, mit der charakteristischen Haltung - und mit diesen Augen - mit diesen Augen?
Eirin glaubte, der Boden unter ihren Füßen wanke. Sie fühlte, wie sie unter der Maske erblaßte.
Da trafen sich ihre Augen. Für eine Sekunde glitt alles vor ihnen fort: der Operationstisch, der Patient, der Oberarzt, die Instrumente, Schwester Kirsten. Die Blicke ineinandergesenkt, standen sie bestürzt und tief bewegt zugleich, ohne den Zufall dieses Augenblicks fassen zu können.
Die Lippen hinter den Masken bewegten sich.
„Eirin?“
„Halfdan?“
Brattholm legte den Schnitt an. Eirin hielt die Arterienpinzetten bereit. Während sie ihm automatisch die richtigen Instrumente im richtigen Augenblick hinreichte, wirbelte in ihrem Hirn alles durcheinander. Aber aus dem Durcheinander schälte sich ein einziger vernünftiger Gedanke heraus: Jetzt galt es zu zeigen, was sie konnte!
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