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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Grunwald
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bescheuert, und dann bricht er plötzlich in Tränen aus. Er steht mitten im Flur und weint. Nun wird auch er natürlich von allen, die vorbeigehen, interessiert beäugt. Was mache ich hier? Und was soll ich jetzt tun? Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und komme mir entsetzlich linkisch dabei vor. Er guckt mich an und schnieft. Wir nicken uns zu und gehen in das Zimmer hinein. Man guckt uns hinterher und tuschelt, sicher finden es alle ganz schlimm, ja, ja.
    Durch das Fenster lugt die Meise – ist das noch dieselbe oder wechseln die sich ab? Überall wittere ich unliebsame Zuschauer. Frau Anzug flüstert: «Mach mal fünf Minuten Pause, ich versuch zu erklären, was los ist, und dann müssen wir überlegen, was wir hier überhaupt noch machen, ich bleib hier drin.»
    Ich finde gut, dass nicht ich das mit dem Mann besprechen muss, nicke Frau Anzug zu und gehe schweigend.
    Auf dem Flur ist immer noch viel los, wie auf einem Bazar. Diejenigen, die schon mal vorbeigegangen sind und geguckt haben, schauen mich jetzt an – kann man in meinem Gesicht Spuren des Erlebten erkennen, Tränen, Schweiß, irgendetwas? Blut käme sicher auch gut. Offenbar finden sie es sehr bedauerlich, dass die Ärztin die Tür von innen geschlossen hat, der Bürger hat ja ein Recht auf Information. Ich plumpse auf ein marodes Bürostühlchen am Hauptarbeitsplatz. Der Computerbildschirm flirrt, überall liegen Zettel und Ausdrucke von Laborwerten herum, mittendrin thront majestätisch das Telefon. Jemand hat eine Packung Kekse mitgebracht, die zwischen dem Locher und einigen Kaffeetassen steht. Ich trinke mindestens einen Liter Mineralwasser in einem Zug; ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn völlig vertrocknet ist. Der Star rührt gedankenverloren in ihrem Kaffeebecher herum, Hippo ist irgendwo beschäftigt. Die Frau, der ich vorhin den Defibrillator ins Gesäß gefahren habe, kommt und guckt uns etwas schnippisch an. «Erst auf dem Flur einen auf dicke Hose machen und dann rumsitzen und Kaffee trinken» – das springt ihr quasi aus den Augen.
    «Ist es jetzt ruhiger für Sie?», fragt sie scheinheilig. Ich muss einen kapitalen Rülpser unterdrücken. Wir stehen auf und gehen nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, bevor ich mich vergesse und die Nächste angewettert wird. Hippo kommt mit. Was ist bloß los mit den Leuten? Gibt es heute nichts Gutes im Fernsehen? War selbst die «Blöd»-Zeitung zu öde?
    Wir sollten eine Abteilung für Event-Management gründen, die auch die Qualitätssicherung übernimmt, phantasieren der Star und ich. Endlich mal etwas Reelles. Schon weil die Kliniken immer so gerade an der großen Pleite vorbeiwirtschaften. Keine kryptischen Diagramme mehr auf den Flipcharts, nein, endlich mal eine gute Planung. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Durchsage: «Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!» – politisch korrekt und zeitgemäß – «In Kürze bekommen Sie die einmalige Chance, einer Reanimation beizuwohnen. Nehmen Sie auf bequemen Sitzgelegenheiten Platz und beobachten Sie die dramatischen Zuspitzungen der Ereignisse! Anschließend können Sie bei einem kleinen Imbiss und gekühlten Getränken Ihre Gefühle aufarbeiten. Ein Krisenmanagerin sowie ein Pastor werden anwesend sein. Wir freuen uns auf Sie!»
    Oder doch besser auf einem Informationsblatt? Eine Durchsage wäre vielleicht zu marktschreierisch. Wir wollen ja keinen Käse verkaufen, auch wenn wir ihn manchmal produzieren. Man könnte mit hübscher Schrift dem Ganzen auch einen Hauch Exklusivität verleihen, wobei man «exklusiv» dann mit «c», also «exclusiv» schreiben sollte, in dieser hässlich verschnörkelten «Künstlerschreibschrift», und dann am besten in Gold. Das Design muss bei so etwas stimmen, sonst wirkt es zu billig. Man könnte Soziologen, Psychologen und Philosophen in die Planung integrieren, denn natürlich wäre es zudem interessant zu erfahren, ob die Masse Mensch noch moralische Grenzen kennt oder für ein gutes Unterhaltungsprogramm genau diese mühelos überschreiten wird. Also auch noch die Anthropologen mit ins Boot holen. Ein Riesending wird das! Hunderte an Dissertationen stecken darin, wenn man sich nur Mühe geben wollte.
    Der Star ist völlig begeistert. Wir könnten damit einen Preis gewinnen, irgendwas mit «Innovation» wäre toll, «Preis für innovatives Event-Management auf Intensivstationen». Eine Art Sonderpreis, der dann auf einem wichtigen Kongress verliehen wird. Erst werden die

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