Schwingen der Lust
Gedanken, die der immer wiederkehrende Albtraum heute Nachmittag frisch geweckt hatte.
Der Freier war ein typisch Londoner Geschäftsmann mittleren Alters - dreiteiliger, dunkelgrauer Anzug und blütenweißes Hemd von Cad & The Dandy, auf Hochglanz polierte, handgefertigte Kalbslederschuhe von Lobb und eine in Anthrazit und Mitternachtsblau schimmernde Seidenkrawatte von Drakes. Sein Gesicht war markant und entschlossen, sein Blick gelassen und dennoch fokussiert, seine Haltung makellos - sein Haar verriet, dass er einmal pro Woche zum Friseur ging. Er gefiel Anya sehr.
Er hatte einen eigenen Koffer mitgebracht, dessen Inhalt zweifellos am Eingang von Sergej, dem Leiter der Sicherheit, überprüft worden war - das versprach zusätzliche Abwechslung ... und die Gewissheit, dass er kein Anfänger war.
Die Chefin, eine Liverpooler Matrone namens Claire, die ihre besten Jahre schon seit mindestens zwei Jahrzehnten hinter sich hatte und scheinbar nicht zu akzeptieren bereit war, dass darüber auch dreifache Lagen Make-up und dick aufgetragener Lippenstift nicht hinwegtäuschen konnten, führte ihn zu dem einem Thron nicht ganz unähnlichen Sessel gegenüber der Reihe und bat ihn, Platz zu nehmen, damit sie ihm die Mädchen vorstellen konnte.
Zuerst war Marina dran - die, wie Anya auch, aus der Ukraine stammte; aus Odessa am Schwarzen Meer. Zwanzig Jahre alt, ebenholzfarbener, sehr klassischer Pagenschnitt über blassem Teint und, nachdem sie jetzt schon seit über einem Jahr hier war, eher drall als schlank. Sie trug hohe Stiefel und ein schwarzrotes Lackoutfit, in dem fast jede andere Frau nuttig gewirkt hätte. Nicht aber Marina. Sie hatte die Grazie und den Stolz alten slawischen Adels, und strahlte dabei dennoch ein jugendliche Verspieltheit und Abenteuerbereitschaft aus. Diese Mischung machte sie zu einem der erfolgreichsten der Mädchen hier in Claires Studio auf der Grenze zwischen Soho und May Fair, und Anya, die von Natur aus eher ruhig und bescheiden war, hatte schon oft den einen oder anderen Freier an die kleine Sexbombe verloren.
Nicht aber heute Nacht. Marina hatte sich gerade vor ihm aufgebaut und keck die Hände in die geschnürte Taille gestützt, da schüttelte der Freier schon mit einer höflichen Geste den Kopf, und Claire winkte sie zurück in die Reihe. Mit einem schnippischen Achselzucken drehte Marina sich herum und ging hoch erhobenen Hauptes zu ihrem alten Platz.
Nun war die Reihe an Svedlana - eine wasserstoffblonde Amazone aus Minsk. Das Markenzeichen der hochgewachsenen Weißrussin war ihr Dirty Look - sie wirkte auf eine attraktive Weise immer, als hätte sie gerade die ganze Nacht durchgefeiert. Dunkel geschminkte Augen, akribisch zerzaustes Haar, stets leicht verwischter Lippenstift und absichtlich in ihren feinen Strumpfhosen angebrachte Laufmaschen. Sie trug Springerstiefel mit offenen Schnürsenkeln, gürtellose Hotpants und ein unter dem üppigen Dekollete abgerissenes Tanktop, das ihre makellos trainierten Bauchmuskeln frei ließ und einen Blick gewährte auf ihr Nabelpiercing und das Piratenflaggen-Tattoo darunter.
Aber auch bei ihr schüttelte der Freier den Kopf, ehe sie überhaupt nach vorne getreten war. Offenbar war Crunch nicht sein Stil.
Doch Anya ahnte inzwischen, was ihn anmachte. Sie hatte seine akkurate Haltung und auch seine beherrschte Gestik und Mimik genau beobachtet. Svedlana hatte er abgelehnt, weil ihm ihr Look nicht gefiel; das kam immer mal wieder vor - Marina aber hatte ihm gefallen, und er hatte sie nur zurückgewiesen, weil sie ihm zu kess entgegen getreten war.
Als also nun die Reihe an Anya war, senkte sie demutsvoll den Kopf, bis ihr Kinn fast ihr Brustbein berührte, trat drei nicht zu gespielt wirkende unsichere Schritte nach vorne und sank vor ihm auf die Knie - die Arme an ihren Oberschenkeln entlang nach unten und die Handflächen nach vorne offen haltend. Eine Geste der Hingabe und ein Zeichen dafür, dass sie bereit dazu war, ihn alles mit ihr tun zu lassen, worauf auch immer er Lust haben mochte.
So verharrte sie einige Momente, bis sie hörte, dass er sich von seinem Sessel erhob und sie mit ihrem auf den Boden gerichteten Blick die Spitzen seiner Schuhe sehen konnte. Sie fühlte seine Finger unter ihrem Kinn und ließ ihn gewähren, als er ihren Kopf leicht anhob, um ihr seine Hand hinzuhalten. Sie nahm sie mit einer sachten Berührung und küsste den goldenen Siegelring, den er trug, als wäre er ein Erzbischof oder ein Mitglied des
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