Science Fiction Almanach 1983
sich so weit geschlossen haben, daß der Kontakt unmöglich geworden war, und ich suchte in Fachbüchern Angaben über den Zeitpunkt, zu dem der Verbindungswuchs der Schädelknochen bei Säuglingen beendet ist. Doch mir fehlte damals das Geburtsdatum des Kleinen, und ich hatte zu wenige Kenntnisse über Babys, um ihr Alter schätzen zu können.
Ich überlegte, ob es ratsam sei, meine Vermutung zu überprüfen, ich hätte dazu meine Nachbarin noch einmal aufsuchen müssen, um mich vom Schließen der Fontanelle des Kleinen zu überzeugen. Aber jetzt das Haus verlassen? Seit Tagen war ich unrasiert, lebte im Halbdunkel und aß nur noch Kinderzwieback.
In diesem Augenblick drangen Ihre Beamten bei mir ein und verhafteten mich.
Das ist die Wahrheit, Herr Richter, meine Damen und Herren Beisitzer, das ist die ganze Wahrheit, soweit ich über diesen Fall berichten kann. Ich weiß nicht, auf welche Weise das Baby dieser Frau am 28. Mai verschwunden ist. Sie sagt, es habe im geschlossenen Zimmer im Bettchen gelegen, und niemand habe während dieser Zeit die Wohnung betreten oder verlassen. Wie also könnte das Kind gestohlen worden sein? Sie sagt, sie sei in dieser Stunde zu Hause geblieben, sie hätte nichts Verdächtiges bemerkt, und doch fand sie anschließend das Bettchen leer. Ein raffinierter Trick? Zauberei?
Warum verdächtigen Sie gerade mich? Wie sollte ich das Haus betreten haben, ohne das Fenster oder die Tür aufzubrechen? Wie hätte ich es unbemerkt verlassen können? Welchen Grund hätte ich denn gehabt, das Kind zu entführen, und warum hätte ich so furchtbare Dinge mit ihm anstellen sollen, wie sie mir hier vorgeworfen werden?
Herr Richter, Sie sind ein aufgeklärter Mensch, Sie wollen sich doch nicht auf eine Stufe mit denen stellen, die mich als Hexer verleumden, ich bin Arzt, Herr Richter, bin Wissenschaftler, so wahr ich hier stehe, ich bin in das Haus dieser Frau nicht eingedrungen, bitte glauben Sie mir. Ich habe berichtet, was ich über den Fall weiß, es ist sehr schwer für einen Parapsychologen, einem Juristen Phänomene der außersinnlichen Wahrnehmung verständlich zu machen. In Ihrer ganzen positivistischen Wissenschaft kommt PSI nicht vor.
Und doch will ich Ihnen sagen, was ich vermute. Ich habe in den Wochen meiner Untersuchungshaft Zeit genug gehabt, über das Verschwinden des Kleinen nachzudenken. Es sind ja nicht nur die ganz präzisen Angaben der Klägerin, die den Fall so rätselhaft machen. Ich kannte ja auch die Vorgeschichte, und so ging ich jedes telepathische Gespräch, Notiz für Notiz, noch einmal durch: Der Kleine wußte, welche geistigen Kräfte in einem menschlichen Gehirn verborgen liegen, er benutzte ja bereits die Telepathie, vermutlich fiel ihm die Aktivierung dieser PSI-Kraft wesentlich leichter als uns Erwachsenen.
Ich vermute, er entdeckte weitere PSI-Kräfte in sich selbst. Und als sein Erschrecken über unsere Welt so groß geworden war, daß er sich fortwünschte, aktivierte er seine Teleportationsfähigkeit und versetzte seinen Körper in ein anderes All.
Je länger ich über diese Erklärung nachdenke, desto wahrscheinlicher wird sie mir, sie entspricht dem Verlauf des Experiments, dem spurlosen Verschwinden des Babys aus dem geschlossenen Raum und der Unmöglichkeit, es wieder aufzufinden.
Herr Richter, meine Damen und Herren Beisitzer! Wenn ich recht habe, wäre dieses Experiment jederzeit wiederholbar, und ein anderer Säugling würde auf seine PSI-Fähigkeiten aufmerksam gemacht und sie nutzen, spielerisch, wie es die Natur von Kindern ist. Wir wissen noch viel zu wenig über die Funktion der Fontanelle, ich wage zu behaupten, jeder Versuch
Weitere Kostenlose Bücher