Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
sehr aggressiv. Unruhig zerrte er an der Leine und scharrte mit seinen Krallen am Linoleumboden. Ich vergaß meine Schmerzen und konzentrierte mich auf meine Panik.
»Was ist? Was schaun wir denn so deppert?«, kam es von der Seite. Die Frau trug ein weißes Unterhemd, das an der Seite blutgetränkt war.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht blöd schauen. Ich hab mir die Bänder gerissen. Entschuldigung.«
»Hast was an mein Hund zum Aussetzen, Deitscher?«
»Nein, hab ich nicht.« Mir brach der Schweiß aus, was nichts mit meiner Verletzung zu tun hatte. Würde der Hund mich anfallen, könnte ich nicht einmal weglaufen, bestenfalls wegkriechen. Ein gefundenes Fressen für einen Kampfhund, der kampflos seine Beute reißen könnte. Ein Glückstag für ihn – ich hörte seine Magensäfte jubelnd brodeln.
»Hat der Hund Sie gebissen? Wegen dem Blut …«, stammelte ich.
»Der Hund? Hamms dir ins Hirn gschissen? Mein Hund beißt mi net. I beiß eam, aber weil i eam so liebhab, dass i eam fressen könnt, vastehst? Na, die Wunde ist von einem gschissenen Oaschloch, der mein Hund deppert angschaut hat. Das mag i net, wenn ma mein Hund deppert anschaut. Da hab i eam in die Goschn ghaut, und er hat mir sei Messer in die Seiten gsteckt. I hob eam oba das Messer aus der Hand grissen und eam in den Bauch gsteckt, dem Schwindligen.«
Erst jetzt bemerkte ich die beiden Polizisten, die neben ihr auf Krankenhausstühlen warteten.
»Ich würde unserem bundesdeutschen Freund raten, den Hund von der Wilden Wanda nicht deppert anzuschauen«, sagte der eine Polizist zum anderen.
»Halt die Pappn, du Vollkoffer«, rief die Wilde Wanda. »Der Deitsche und i, mir san Freind. Net woar, Deitscher? Wir Hinnigen miassen zammhalten.«
Später erfuhr ich, dass meine neue Freundin die einzige Zuhälterin Wiens war. Sie war lesbisch, schickte ihre Freundinnen auf den Strich und war bekannt dafür, sehr jähzornig und ständig gewaltbereit zu sein. Mehrmals saß sie im Gefängnis, weil jemand ihre Hunde blöd angeschaut hatte und sie dazu neigte, wortlos zuzustechen. Wort- und grußlos. Jeden Konflikt bewältigte sie mit der Faust oder dem Messer.
Ich wurde in den Gipsraum geschoben und bekam einen Gehgips bis zum Knie, strahlend weiß. Mit Krücken bewegte ich mich ungeschickt Richtung Ausgang, als ich hinter mir eine laute Stimme hörte: »Heast, woart!«
Die Wilde Wanda winkte mir zu, mit Handschellen. Ihre Wunde war versorgt worden, nun stampfte sie zu mir, mit dem Hund an der Leine, dahinter die Polizisten, in Sicherheitsabstand zum Hund.
»Des is gschissen, mit die Krücken. Oba du gwöhnst di scho dran«, sagte sie. »Heast, hobts es an Schreiber?«, fauchte sie die Polizisten an.
Unterwürfig reichte ihr einer einen Kugelschreiber. Trotz ihrer Wunde beugte sie sich runter zu meinem Bein. Wanda schrieb sie auf den Gips. »Gute Besserung«, sagte sie und warf den Stift dem Polizisten an den Kopf.
»Ihnen auch. Gute Besserung.«
»Danke, aber des kummt zu spät. Bei mir hülft ka Besserungsanstalt. Da is Hopfen und Malz verlorn. Gemma, Bambi.«
Der Hund bellte, und Wanda zog mit Bambi und den beiden von ihr gezähmten Polizisten ab.
Der Junge mit den blunznfetten Schuhen sang den alten Sigi-Maron-Schlachtruf »Leckts mi aum Oasch«. Robert verzog das Gesicht.
»Wie kann man so falsch singen? Da blutet man ja aus den Ohren. Johannes Wittgenstein, der Bruder des Philosophen, war so musikalisch, dass er schon als Kind weinend zusammenbrach, wenn die Blasmusik auch nur einen falschen Ton spielte, wusstest du das? Und Paul, ein anderer Bruder von Ludwig, war Pianist und hatte im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren. Er setzte seine Karriere trotzdem fort. Wie das ganze Land Österreich. Nur noch ein Arm, aber musikalisch. Und mit wem besuchte Ludwig Wittgenstein in Linz die Schule?«
»Ist das ein Quiz?«, fragte ich.
»Mit Adolf Hitler. Ein veganer Diktator und ein schwuler Philosoph – fast ein Traumpaar. Das ist eben ein kleines Land, da kommt’s zu den seltsamsten Begegnungen«, seufzte Robert.
Wir fuhren über die Floridsdorfer Brücke. Die Sonne reflektierte auf dem Wasser. Unter uns fuhren Radfahrer. Von Passau bis Budapest.
»Schön, nicht? Eigentlich sehr schön«, sagte Robert.
»Darfst du das? Wien schön finden?«, frage ich.
»Dir gegenüber schon. Wenn du aus Wien kämst, wär’s ein bissl merkwürdig, Wien öffentlich schön zu finden – solange man hier ist. Wenn man im Ausland ist, kann man Wien
Weitere Kostenlose Bücher