S.E.C.R.E.T.
war und im Maison Konzerte gab. Oder ich bummelte durch Antiquitätenläden und Secondhand-Shops auf der Magazine Street. Aber im Großen und Ganzen verließ ich diese Stadtteile nur selten. Ins Museum of Modern Art oder in den Audubon Park ging ich gar nicht mehr. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich hätte den Rest meines Lebens in dieser Stadt verbringen können, ohne jemals das Wasser zu sehen.
Ich trauerte. Immerhin war Scott der erste und einzige Mann gewesen, mit dem ich je zusammen war. Und so brach ich bei den unmöglichsten Gelegenheiten in Tränen aus, im Bus oder beim Zähneputzen. Dabei trauerte ich nicht nur um Scott. Ich trauerte um fast fünfzehn Jahre meines Lebens, die ich damit verbracht hatte, mich ständig von ihm herabsetzen zu lassen und seinen Meckereien zu lauschen. Das war alles, was mir von ihm geblieben war. Ich wusste nicht, wie ich die kritische Stimme abschalten sollte, die mich auch nach seinem Tod immer wieder auf meine Fehler aufmerksam machte und sie hervorhob.
Wieso gehst du eigentlich nicht ins Fitness-Studio?
Keiner will eine Frau über fünfunddreißig.
Du kannst nichts anderes als fernsehen.
Du könntest so viel hübscher aussehen, wenn du dich nur bemühen würdest.
Fünf Jahre.
Ich stürzte mich in die Arbeit. Das Tempo im Café passte zu mir. Wir waren der einzige Laden in der Straße, der auch Frühstück anbot. Nichts Besonderes. Eier in jeder Variation, Würstchen, Toast, Obst, Joghurt, Gebäck und Croissants. Auch das Mittagessen war nicht sonderlich raffiniert: Suppen und Sandwichs, manchmal ein Eintopfgericht wie Linsensuppe oder eine Jambalaya, wenn Dell früh kam und Lust hatte, etwas zusammenzurühren. Eigentlich arbeitete sie ja als Bedienung, aber als Köchin war sie deutlich besser. Leider fand sie es einfach unerträglich, den ganzen Tag in der Küche zu stehen.
Ich arbeitete nur vier Tage die Woche, von neun bis vier, manchmal länger, wenn ich noch was aß und auf Will wartete. Wenn Tracina zu spät eintrudelte, fing ich oft schon mal an, an ihren Tischen zu bedienen. Ich beklagte mich nie darüber, denn auf diese Weise blieb ich in Bewegung.
Nachmittags hätte ich sicher mehr Geld verdienen können, aber ich mochte die Morgenschicht. Ich liebte es, wenn morgens die Reinigungsfahrzeuge als Erstes den Schmutz vom schmuddeligen Bürgersteig wegspritzten. Wenn die Sonne Flecken auf die Terrassentische zauberte. Ich liebte es, die Vitrine mit Gebäck aufzufüllen, während ich Kaffee aufbrühte und die Suppe vor sich hin simmerte. Ich liebte es, mir Zeit zu nehmen, um meine Abrechnung zu machen. Mein Geld auf einem der wackligen Tische an den großen Fenstern auszubreiten. Aber mein Heimweg war und blieb eine einsame Veranstaltung.
Mein Leben hatte mittlerweile einen stetigen, verlässlichen Ablauf: arbeiten, nach Hause gehen, lesen, schlafen. Arbeiten, nach Hause gehen, lesen, schlafen. Arbeiten, Kino , nach Hause gehen, lesen, schlafen. Es hätte zwar keiner übermenschlichen Anstrengung bedurft, aus diesem Rhythmus auszubrechen, aber ich schaffte es einfach nicht, etwas zu verändern.
Ich dachte, dass ich nach einer Weile automatisch wieder anfangen würde, zu leben oder mich sogar zu verabreden. Ich glaubte, dass auf magische Weise irgendwann der Tag kommen würde, an dem der entgleiste Zug meines Lebens zurück auf die Schiene kam. Als ob jemand einen Schalter umlegt. Ich dachte flüchtig darüber nach, wieder zur Schule zu gehen. Meinen Abschluss zu machen. Aber ich war zu lethargisch, um mich anzumelden. Ich steuerte ungebremst auf die Lebensmitte zu, und meine fette, bunte Katze Dixie, eine ehemalige Streunerin, wurde mit mir zusammen alt.
»Wenn du dich beschwerst, dass deine Katze dick ist, klingt das immer, als hätte sie das selbst verursacht«, hatte Scott oft zu mir gesagt. »Sie ist nicht einfach so fett geworden. Das ist deine Schuld.«
Scott hatte Dixie und ihrem ständigen Betteln um Nahrung nicht nachgegeben. Ich hingegen wurde immer wieder schwach. Ich hatte keine Willenskraft – was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass ich es so lange an Scotts Seite ausgehalten hatte. Ich brauchte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass ich für seine Alkoholsucht nichts konnte und dass ich ihm auch nicht helfen konnte, sie zu überwinden. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn hätte retten können, wenn ich es nur ernsthaft versucht hätte.
Vielleicht hätte ein Baby, wie er es sich wünschte, alles
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