See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
wie möglich.
Ohne noch einen Blick auf Joanna zu werfen, drehte sie sich um und rannte los. Sie spürte weder die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen, noch die Dornen, die sich in ihre Arme und Beine bohrten.
Sie wollte nur eines: endlich raus aus diesem Albtraum!
Sieben Jahre später
3. Kapitel
Bereits das Ortsschild brachte sie aus der Fassung. Shadow Lake . Nur zwei Worte reichten aus, um eine riesige Welle von Erinnerungen über Tess Hennessey hereinbrechen zu lassen.
Unzählige längst verdrängte Bilder tauchten plötzlich wieder auf, Bilder einer unbeschwerten Kindheit: Sie erinnerte sich an die Picknicks, die Tante Ellen regelmäßig am Waldrand mit ihnen veranstaltet hatte und an ausgelassene Ballspiele mit Jared auf der Wiese hinter dem Haus. Dann hatte sie plötzlich Bilder von sich selbst mit ihrer besten Freundin Kate vor Augen. Als Schmetterlinge verkleidet sangen und tanzten sie bei der Theateraufführung in der Grundschule.
Tess lächelte, als sie an ihren ersten Kuss dachte. Jerry Petersen, den sie mit dreizehn Jahren in einem Zeltlager kennengelernt hatte, war am letzten Abend auf sie zugekommen und hatte sie regelrecht damit überfallen. Dabei war er so nervös gewesen, dass er ihr mit seiner Zahnspange beinahe die Lippe blutig geschlagen hätte. Als sie daraufhin angefangen hatte zu kichern, war er beleidigt abgezogen. Sie hoffte, dass sein männliches Ego keinen dauerhaften Knacks abbekommen hatte.
Und natürlich erinnerte Tess sich auch an ihren ersten Liebeskummer. Sie war gerade fünfzehn gewesen und Andy Cunningham hatte mit ihr Schluss gemacht. Stundenlang hatte sie mit Jared am Ufer des Sees gesessen. Er hatte tröstend den Arm um sie gelegt und ihr ins Ohr geflüstert, dass Andy sich deswegen irgendwann selbst in den Hintern beißen würde.
Der See.
Unwillkürlich schüttelte Tess den Kopf, um die aufsteigenden Gedanken zu vertreiben. Sie wollte nicht an den See denken. Aber so sehr sie sich auch zwang, sich nur die vielen schönen Momente ins Gedächtnis zu rufen, die sie am Shadow Lake verbracht hatte, es tauchten doch immer wieder die gleichen Erinnerungen auf: an den einen Abend am See, der ihre Kindheit so abrupt beendet und ihr Leben für immer verändert hatte.
Sie krallte die Hände so fest um das Lenkrad, dass sie schon nach ein paar Sekunden anfingen zu schmerzen. Voll auf die Straße konzentriert fuhr sie weiter.
Es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, als Tess endlich ihr Ziel erreicht hatte, den kleinen Ort Shadow Lake in Oregon, in dem das Haus ihrer Tante Ellen lag.
Mehr als sechs Stunden war es nun her, dass sie in San Francisco, wo sie inzwischen lebte, losgefahren war. Von der langen Fahrt waren ihre Nackenmuskeln schmerzhaft verspannt. Ihre Beine dagegen fühlten sich seltsam taub und geschwollen an. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, endlich auszusteigen und sich zu strecken und zu dehnen, während ein anderer Teil sich wünschte, niemals anzukommen.
Unterwegs hatte sie keine Pause gemacht, obwohl sie mehr als einmal das Bedürfnis verspürt hatte, anzuhalten und sich ein bisschen zu bewegen. Aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie nach einer Unterbrechung überhaupt noch die Kraft aufgebracht hätte, ihren Weg nach Shadow Lake fortzusetzen. Also war sie einfach immer weitergefahren. Dabei hatte sie das mulmige Gefühl, das schon lange vor ihrer Abfahrt eingesetzt und sich mit jeder Meile verstärkt hatte, so gut wie möglich ignoriert.
Erst als Tess das Ortsschild von Shadow Lake passiert hatte, ließ sich das Unbehagen trotz aller Bemühungen nicht mehr ausblenden. Während sie langsam die breite Hauptsraße entlangfuhr, nahm sie die Eindrücke der Umgebung in sich auf. Sie kannte jedes Haus, jede Straßenecke. Viel hatte sich nicht verändert, nachdem sie den Ort in Richtung Kalifornien verlassen hatte. Einige Häuser waren frisch gestrichen worden, andere waren noch heruntergekommener, als Tess sie in Erinnerung hatte. Aber der Charakter von Shadow Lake war derselbe geblieben. Es war immer noch der saubere, gepflegte Ort, in dem viele brave Bürger wohnten – zumindest dem äußeren Anschein nach, dachte Tess verbittert. Ob dieser Eindruck lange Bestand hatte, wenn man es wagte, hinter die Kulissen zu sehen, war eine ganz andere Frage.
Tess merkte, dass sie leicht zu zittern begonnen hatte. Obwohl sie genau wusste, was mit ihr los war, schob sie es auf den Kaffee, den sie während der Fahrt beinahe literweise in sich
Weitere Kostenlose Bücher