See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
Ziel. Außerdem war es wesentlich besser, selbst aktiv zu werden, anstatt nur die weiteren Ereignisse abzuwarten.
Jetzt stellte sie ihren Wagen, einen kleinen weißen VW, vor dem Haus ihrer Tante ab und schaltete den Motor aus, blieb aber im Auto sitzen. Einen Moment zögerte sie noch. Sie sah zum Haus hinüber, das einmal ihr Zuhause gewesen war. Es schien sich in den letzten Jahren kaum verändert zu haben. Die verwitterte hellblaue Holzfassade mit den weißen Fensterrahmen hätte dringend einen frischen Anstrich gebraucht, und auch das Dach sah nicht so aus, als würde es dem rauen Klima noch lange trotzen. Aber der Vorgarten trug eindeutig Ellens Handschrift. Sie hatte schon immer ein besonderes Geschick im Umgang mit Pflanzen gehabt, und dementsprechend blühten vor der Veranda üppige Büschel von Vergissmeinnicht, Tulpen und Goldlack. Alles wirkte vertraut und doch irgendwie wie aus einer anderen Welt.
Tess hatte so lange daran gearbeitet, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, dass sie in diesem Augenblick zweifelte, ob ihre Entscheidung wirklich die richtige gewesen war. Ein paar Tage lang hatte sie überlegt, einfach in San Francisco zu bleiben und die Räumung des Hauses einem auf Haushaltsauflösungen spezialisierten Trödler zu überlassen. Den Verkauf hätte dann ein Makler aus Medford oder der Umgebung übernehmen können. Es wäre kein Problem gewesen, die entsprechenden Aufträge per Telefon oder schriftlich zu erteilen und sich anschließend einfach das Geld auszahlen zu lassen. Sie hätte das unangenehme Kapitel einfach abhaken können, ohne überhaupt in die Nähe von Shadow Lake kommen zu müssen.
Schließlich war sie aber zu dem Entschluss gekommen, dass sie sich selbst um alles kümmern musste. Irgendwann musste sie sich ihren Erinnerungen stellen, so schlimm sie auch waren. Nur so konnte sie endgültig mit ihrer Vergangenheit in Shadow Lake abschließen.
Also holte sie einmal tief Luft, sammelte alle Willensstärke, die sie aufbringen konnte, und stieg aus dem Auto. Nach der langen Autofahrt tat ihr alles weh. Sie stemmte die Hände in den Rücken und streckte sich ausgiebig. Dabei ruhte ihr Blick unverwandt auf dem Haus ihrer Tante.
Während sie auf das vertraute und doch irgendwie so fremd wirkende Haus zuging, musste sie noch einmal an das Schreiben der Anwaltskanzlei denken, in dem ihr die schreckliche Nachricht von Ellens Tod mitgeteilt worden war. Als einzige lebende Angehörige hat unsere Mandantin Sie zu ihrer Alleinerbin bestimmt …
Tess spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam, und rieb sich mit beiden Händen über die Arme. »Ich soll deine einzige lebende Angehörige sein, Tante Ellen?«, murmelte sie fast unhörbar. »Es gab manchmal Zeiten, da habe ich fast selbst daran geglaubt. Aber inzwischen gibt es außer dir wohl niemanden mehr, der so denkt.«
4. Kapitel
Mit leicht zitternden Fingern zog Tess den Schlüssel, den ihr der Anwalt ihrer Tante zugeschickt hatte, aus der Jackentasche. Sie hatte Mühe, ihn in das altmodische Türschloss zu stecken.
Als sie die Haustür öffnete, schlug ihr der typische Geruch entgegen, der untrennbar mit ihrer Kindheit verbunden war. Obwohl die Luft abgestanden und muffig roch, war deutlich der süße Duft von den mit Lavendel gefüllten Stoffsäckchen wahrzunehmen, die ihre Tante Ellen jedes Jahr im Spätsommer selbst genäht und in den Kleiderschränken verteilt hatte. Tess erinnerte sich, dass sie als Kind immer heimlich eines der Säckchen aus ihrem Kleiderschrank geholt und unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte. Sie hatte es geliebt, beim Einschlafen den vertrauten Geruch in der Nase zu haben.
Hinter der Haustür lagen direkt das Wohnzimmer und die offene Küche. Dort hingen wie in jedem anderen Zimmer des Hauses zahlreiche sorgfältig gerahmte Zeichnungen und Skizzen von Ellen. Sie hatte als Illustratorin für Kinderbücher gearbeitet und ihre gelungensten Werke an den Wänden verewigt. Da Ellen es nicht gemocht hatte, wenn Tess und Jared ihr beim Malen zugesehen hatten, hatten sie die Bilder immer erst nach deren Vollendung zu Gesicht bekommen. Deshalb war die Fertigstellung jedes neuen Kunstwerks mit Spannung von den beiden erwartet worden.
Bei dem Gedanken daran überkam Tess wieder tiefe Trauer, gepaart mit einem schlechten Gewissen. Sie erinnerte sich nur noch zu gut an das letzte Gespräch, dass sie hier im Haus mit ihrer Tante geführt hatte. Es war am Tag ihres Auszugs gewesen. Sie hatte das Auto mit ihren Sachen
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