Blood Romance 03 - Bittersuesse Erinnerung
Italien, 1881
»Lasset uns beten für die Reinheit und die Unverzagtheit seiner Seele, damit sie dem listigen Schmeicheln des Satans nicht noch auf ihrem letzten Stück Weges verfalle, sondern den falschen Verlockungen der Hölle widersage und voller Zuversicht aufstrebe in den rettenden Schoß des Himmels.«
»Wir bitten dich, erhöre uns ...«
Das monotone Murmeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Im Licht der Kerzen, das die dichten Rauchschwaden kaum zu durchbrechen vermochte, wirkten die Gestalten mit ihren dunklen Gewändern und gesenkten Häuptern wie Schattenwesen. Der beißende Geruch von Weihrauch drang in seine Nase und raubte ihm den Atem.
Dong-dong ... Dong-dong ... Dong-dong ...
Er taumelte, als die schweren Glocken zu läuten begannen - eindringlich, auffordernd und unerbittlich. »Begreif endlich, was passiert ist. Jeder Widerstand ist zwecklos«, schienen sie ihm mit ihren tiefen Stimmen entgegenzudröhnen.
Eine schmale Hand packte seinen Arm. Der Junge schrie vor Schreck auf. »Nein, lass mich!« Panik stieg in ihm hoch. Er wusste, was man nun von ihm erwartete und versuchte, sich loszureißen. Aber es gelang ihm einfach nicht, sich aus dem festen Griff seiner Mutter zu befreien.
»Die Leute starren dich schon an! Du wirst deine Pflicht tun, hast du verstanden?«, zischte ihre Stimme dicht an seinem Ohr. Sie zerrte ihren Sohn zu dem offenen Sarg. Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden. Er versäumte es, früh genug die Augen zu schließen. Das Bild traf ihn wie ein Faustschlag. Seine Kehle schnürte sich zusammen und er hatte plötzlich das Gefühl, ersticken zu müssen.
Wie ein gieriger Wurm hatte sich der Tod in das Gesicht des Mannes vor ihm gegraben, hatte sich seine Wege zwischen jedem einzelnen Knochen seines Schädels hindurchgebahnt, hatte den Glanz aus seinem Haar, alle Farbe und Stärke aus seinen Zügen gefressen und tiefe graue Furchen in der fahlen Haut hinterlassen.
Eiseskälte breitete sich in ihm aus.
Das ist er nicht, das kann er nicht sein, hämmerte es fortwährend in seinem Kopf. Die Glockenschläge schmerzten in seinen Ohren und ließen seinen Magen vibrieren. Die Mauern schienen auf ihn zuzukommen, ihn in die Enge treiben und erdrücken zu wollen.
Er darf es nicht sein, darf nicht, darf nicht ...
»Er ist nicht tot, er lebt noch!«, schrie er gegen den Glockenlärm an.
»Wirst du wohl still sein!«
»Das ist ein Irrtum, ganz bestimmt! Er ist mächtiger, viel mächtiger als der Tod!“
»Heilige Maria Muttergottes, er ist vom Teufel besessen«, wisperte es von der Seite. »Er ist ein Sohn des Satans! Allmächtiger, nimm dich seiner an.«
Alle Gesichter wandten sich ihm zu, ihre Münder flüsterten und raunten, von überall starrten ihn feindselige Augen an. Sie kamen näher, immer näher, begafften, verhöhnten und beschimpften ihn, Finger zeigten auf seine Brust. Ihm wurde schwindelig. Seine Beine konnten ihn nicht mehr halten, der Steinboden kam wie von selbst auf ihn zu. Für einen kurzen Moment war ihm, als sähe er eine aschfahle, sehnige Hand über sich auftauchen, die herabschnellte, um sich kalt um seine Kehle zu legen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Dustin saß in seinem Bett und starrte ins Nichts. Seine Eltern hatten ihn, nachdem er wieder zu sich gekommen war, nach Montebello zurückgebracht, schweigend, aber mit vorwurfsvollem Blick.
Tot, tot, tot, dröhnte es nach wie vor in seinem Kopf. Was war nur schiefgelaufen? Sein Großvater hätte nicht sterben dürfen, niemals. Er hatte es ihm versprochen, hatte verbissen gegen den Tod angekämpft, so vehement, wie er es immer getan hatte, wenn etwas oder jemand seine Pläne durchkreuzen wollte. Und sein Plan war es gewesen, am Leben zu bleiben, selbst, nachdem er vor einem Jahr so schwer krank geworden war.
»Heute Nacht wollte mich der Tod überführen«, hatte der alte Mann seinem Enkel vor einigen Monaten beim Frühstück zugeflüstert und Dustin war es eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. »Aber ich war stärker als er, ich habe ihn besiegt. Ha, ich lasse mir doch nicht einfach das Leben verbieten — auch nicht vom Tod persönlich! Ich glaube fest an mich und meine Stärken. Denn wenn man fest genug an etwas glaubt, ist alles möglich. Denk immer daran, mein Junge!«
Dustin hatte seinen Großvater, diesen starken und unerschrockenen Kämpfer, voller Bewunderung und Faszination betrachtet. Giacomo di Ganzoli war ein Mann, dem alles gelang, dem niemand widersprach und dem selbst
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