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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Bahnsteighose bezeichnet werden, aber der Kuckuck rief schon jeden Morgen. (Manchmal war es auch gar nicht der Kuckuck, sondern der ewig tropfende Wasserhahn am Küchenausfluß, der ihn täuschend nachzuahmen verstand.) Noch ehe ich mit meinen hastigen Versuchen, das Sommerhaus für einen Großstadtgewöhnten komfortabler zu gestalten, zu einem Ergebnis gekommen war, traf Michaels Brief ein, wonach ihm der Existenzkampf auf dem Dorf doch lieber sei als die soziale Geborgenheit und die Stadt, weil er nämlich sonst nicht mehr schreiben könne. Der Faden der Ariadne führte nach Oberbayern zurück, ohne daß ich am anderen Ende zog.
    Als nur noch auf den Gipfeln der Berge etwas schlampig aufgetragener Zuckerguß lag und die Boote für die Saison frisch lackiert wurden, kam Michael heim.
    Wie gern hätte ich ihn nach dem vornehmen Interludium in einer Villa mit offenem Kamin empfangen. Oder doch wenigstens den verzweifelt schäbigen Schreibtisch, auf dem drei seiner Bücher das Licht der Welt erblickt hatten, durch einen spanischen Barocktisch ersetzt. Oder wenn schon dies alles nicht, statt der blechernen Badewanne, die einst Bruder Leo nach Maß hatte spenglern lassen, eine Kachelwanne eingebaut, in die das Wasser nicht prasselnd, sondern leise und diskret einlief. Doch ich würde froh sein müssen, wenn man wenigstens meinen Menüs nicht das eiserne Spar-Regime anmerkte, das eine Rückkehr zu den Zufällen des freien Berufs mit sich bringt. (»Nicht gleich anfangs gaben die Götter den Sterblichen alles...«)
    »Willkommen im Grünen«, rief Papa Michael freudig entgegen. (Man verstand ihn kaum, weil er das Scherzo von Bruckners Siebenter, das er des hysterischen Hahnenschreis wegen so liebte, überlaut eingestellt hatte.) »Guck mal Papi, ich kann Handstand«, verkündete Dicki und fiel dann polternd gegen die Tür. Keiner von beiden hatte gemerkt, daß eine Riesenveränderung, ein Schicksal, ganz dicht vorübergezogen war.
    Wir waren geblieben. Wir werden noch anderen Versuchungen widerstehen.
    Ich kann das unserer Besucherin nicht erklären.
     
     
     

10. Mai
     
    Haben wir wirklich schon ein halbes Jahr ein Fernsehgerät? Habe ich nicht eben erst ein Stückchen Tagesschau durch das Schaufenster eines Elektroladens hindurch ferngesehen, kopfschüttelnd? Mein bockiger Widerstand gegen die ganze Einrichtung stammt — dazu braucht man keinen Analytiker mit Wachstuchcouch — aus jenem Jahr, in dem ich zwar nicht fernsah, wohl aber ferngesehen wurde. (Wäre ich ein Stück Wild, würde ich waidgerecht als »verblattet« bezeichnet werden!) Ich wurde aufgefordert, eine Glosse von zehn Minuten im Fernsehen zu sprechen und hatte solche Angst davor, daß sich bei mir die Symptome fast aller Leiden mit Ausnahme von Lepra und Pest zu zeigen begannen. Als ich gerade absagen wollte, brach ich durch den morschen Küchenboden, und die Reparatur würde sehr teuer werden. Da kaufte ich mir eine Flasche Baldrian und fuhr in die ferne Stadt zum Fernsehsender.
    Der Fernsehsender bestand aus einer Baracke voller Büros mit sehr liebenswürdigen Sekretärinnen und einer Art Turnhalle, von deren Vorraum viele Türen zu Kulissenlagern, Garderoben und Räumen voll gleichgültig-borstiger Techniker führten. Lampenfieber ist ein echtes Fieber. Ich atmete flach und leicht, meine Knie waren eine breiige Masse. Viele Schilder riefen mir zu: »Ruhe, Sendung!« Dann kam eine Gruppe wichtiger Männer zu mir und begrüßte mich. Der eine war für die Programmgestaltung verantwortlich, der zweite für den Ton, der dritte für das Bild und der vierte für die ganze Nachmittagssendung. Sie alle würde ich verstimmen, wenn ich meine Sache schlecht machte. Mir wurde ganz übel. (Nie hätte ich Schauspielerin werden können, nie, niemals!) Das Allerheiligste, in das sie mich führten, um die ganze Sache erst mal durchzuprobieren, war eine Kreuzung zwischen einem Terrarium und einem Fotoatelier: sehr hell, sehr heiß, sehr vollgekramt mit Dekorationen und sich ringelnden Kabeln. Trotzdem war noch Platz für etwa zehn weitere Männer. Man setzte mich vor ein Stück scheußlich tapezierte Wand in einen Stuhl, der statt der Hinterbeine eine untergenagelte Holzkiste hatte. Einer der wichtigen Männer ging neben mir in die Hocke und sprach milde auf mich ein, als erwartete er jede Minute den in dieser Umgebung durchaus erklärlichen Tobsuchtsanfall. Er eröffnete mir, wie er sich die Sendung etwa gedacht hatte. Mir gefiel es nicht, aber ich wollte ihm

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