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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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dies Lager brüderlich.
    So ohne Leben, oh wie lieblich lebt es sich,
    So ohne Tod, wie stirbt es sich so leicht.
     
     
     

8. Mai
     
    In die kleine Kreisstadt, die kein eigenes Theater hat, kommt gelegentlich eine Wanderbühne. Gestern spielte sie »Kabale und Liebe«, und die wilden Texte des jungen Schiller flössen schäumend von der Rampe, hinter der sonst eine Leinwand für Filme entrollt wird. Danach fand ich in der Garderobe eine siebzehnjährige Seehamerin bitterlich weinend. »So hör doch auf«, zischelte die Mutter, die sie am Arm hielt, »ja schämst du dich denn nicht?« und zu mir gewandt: »Sie hat halt nicht gemeint, daß das Stück so schlecht ausgeht.« Die liebe Kleine! Wie gern hätte ich sie, bei allem Respekt vor fremden Erziehungsmethoden, im Namen Schillers in die Arme genommen, der großen Wert darauf legte, daß man sich von Ergreifendem auch ergreifen ließe. Er wäre darüber, wer sich hier zu schämen hätte, wohl meiner Ansicht gewesen.
     
     
     

9. Mai
     
    Nun wird ein Zusatzgerät zum Magnetophon angeboten, das zu den Farbdias der letzten Urlaubsreise nicht nur den Text spricht, sondern auch im rechten Augenblick die Dias wechselt. Der Hausherr macht nur noch die Gesichter dazu. (Mir ist das hilfloseste Gestotter, das auf mich persönlich zugeschnitten ist, lieber als diese tote Perfektion.) Warum verläßt man seine solchermaßen technisch bestens betreuten Gäste nicht gleich ganz und geht in die Eckkneipe auf ein Bier?
    Schon werden die Weihnachtslieder nicht mehr gesungen (o rührend tremolierender Gesang, schartig gewordenen Bässe der Väter und Onkels, o Feierlichkeit, entstanden aus gemeinsamer Anstrengung!). Schon ertönt nach Trauungen blechern-plärrend die mechanische Wiedergabe des Medelssohnschen Hochzeitsmarsches. Schon liest die Mutter den Kindern die Märchen nicht mehr vor, sondern stellt den Plattenspieler an, aus dem es unerhört geschult tönt. Und nun ist es soweit gekommen, daß man den irgendwann einmal nötig werdenden Vortrag über die Herkunft der kleinen Kinder nicht mehr selber hält, sondern auch hierzu die Nadel auf eine Platte setzt und mit glasig-roten Ohren das Zimmer verläßt. (Was tut man eigentlich draußen, außer sich genieren? Socken waschen?) Ich bin mir klar, daß ich in Dingen des technischen Fortschrittes ein Fossil, ein übriggebliebener Brontosaurier bin, aber so kann doch der Schrei nach der Vollautomatisierung nicht gemeint sein!
     
     
     

10. Mai
     
    Vor dem Ersten Weltkrieg, erzählte Mama, bekamen junge Mädchen zur Konfirmation Fünfjahres-Tagebücher, um durch einen Blick auf zurückliegende Eintragungen des gleichen Datums festzustellen, wie weit sie inzwischen seelisch gereift waren.
    Hätte ich ein solches Buch, so müßte ich bei meinem Vergangenheitskult nicht erst so viele kleine Lederkalenderchen hervorkramen (sie liegen auf einem hohen Regal und fallen mir dabei immer auf den Kopf), um meiner geduldigen Familie mitzuteilen: »Heute vor fünf Jahren machten wir den Spaziergang zur Brücke. Damals war es schon viel wärmer.« Was sollen die Ärmsten darauf anderes erwidern als: »Soso« oder »Aha«. (Neuerdings bin ich mit den Kalendern gar nicht mehr recht zufrieden. Augenscheinlich als Terminübersicht für Manager gedacht, lassen sie für Sonnabend und Sonntag derart wenig Platz, daß ich mich an den beiden Tagen fast nichts mehr zu erleben traue.)
    Das letzte Jahr über habe ich wirklich Tagebuch geführt, dies und jenes Datum durchs Vergrößerungsglas betrachtet, die Bilder deutlicher zu sehen versucht, so wie als Kind die schwebenden hellen Muster, die hinter den zugedrückten Lidern entstehen. Nun kehre ich zu den Stichworten zurück, deren Eintragung nicht länger dauert, als bis das allzu zierliche Bleistiftchen stumpf wird, das dem Lederbüchlein beigegeben ist. Und doch wird ein Blick auf so eine Eintragung genügen, und der Tag wird wieder da sein, »für immer aus dem Strom der Zeit gerettet, ans Trockene gezogen, eingedost, auf Hausfrauenart«. Und dort, wo eigentlich als Motto der kleine japanische Dreizeiler hingehörte: »O du Vergangenheit, entstanden aus langsam sich mehrenden Tagen«, da wird alles vollgedruckt sein mit Postgebühren, Flächenmaßen und Zinseszins. Das war auch bei früheren Kalenderchen nicht anders.
    Heute stoße ich auf den Mai 1946. Was steht da? »Michael mit ergatterten Nägeln zurück. Dafür anderthalb Stunden nach Fleisch anstehen. Kohlen nur noch für ca. 14 Tage.

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