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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Laden spart, und wenn man in dem einen Geschäft nicht zufrieden ist, so geht man einfach in ein anderes, ohne wie wir in Seeham dafür eine jahrelange Fehde austragen zu müssen.
    Manchmal ist das Wetter derart, daß eine nächtliche Heimfahrt gegen die Grundgesetze jeder Lebensversicherung verstieße. Dann übernachten wir bei Freunden. Dort ziehe ich immer sofort die Rolläden des uns zugewiesenen Zimmers auf, um das Lichtermeer unter mir liegen zu sehen, wobei Michael und ich auf dem Fensterbrett lehnen wie von Schwind oder Spitzweg gemalt. Den Wohnungsinhabern bedeutet das Lichtermeer nichts, sie wissen nicht, wie dunkel es draußen auf dem Lande ist, wo nur dann einmal ein Licht in der Nacht brennt, wenn irgendwo eine Kuh kalbt.
    Die morgendliche Geräuschsymphonie, unter der die Wohnungsinhaber so leiden, finden Michael und ich sehr belustigend. Wir setzen uns im Bett auf und machen einander auf dieses oder jenes Detail aufmerksam. Der Raucherhusten des Herrn von nebenan, das türenschlagende, streitende Ehepaar im dritten Stock sind uns interessant. Wir hören sonst nur Hähne, Sturm und Traktoren. Das Frühstück bei unseren Gastgebern stärkt mich derart, daß ich mich zusammennehmen muß, um auf der Straße nicht zu singen. Ich freue mich über die gepflasterten Straßen, in denen man nicht mit den Absätzen einsinkt, die Läden, in denen es zu jeder Tageszeit heiße Brühe oder Würstchen gibt, und genieße die Tatsache, daß mich niemand kennt und ich nicht andauernd grüßen muß. Jedesmal ermahnt mich Michael, der inzwischen seine Mustermappe geistiger Erzeugnisse austrägt, mich nicht wieder so abzuhetzen, und jedesmal kann ich es wieder nicht lassen, rase von Warenhäusern zu Museen und Ausstellungen und von dort zu Leuten, die wir jahrelang nicht gesehen haben und denen ich im Zeitraffertempo alles Wissenswerte über uns und Dicki erzählen muß. Um mich auszuruhen, kann ich ja immer zwischendurch in ein Wochenschaukino gehen und mir Zeichentrickfilme ansehen, wobei ich der Schrecken der anderen Besucher bin, die in der Sitzreihe über meine inzwischen sehr angeschwollenen Einkaufstaschen stolpern. — Mit Wachstuchrollen und Gardinenstangen, mit durchweichenden Tüten und Sperrgut aller Art nimmt Michael mich wieder auf, und bis mindestens Holzkirchen erweist es sich, wieviel man erlebt, wenn man kurzzeitig nicht beieinander ist. — Dann schlafe ich ein, und meine Beschwingtheit hält auch im Schlaf an, während mir geheimnisvolle Unebenheiten auf der Autobahn den Kopf in Abständen nach hinten oder vorne reißen. Sie hält an, bis ich zu Hause vor meinem Ausgabenbuch sitze und abrechne.
     
     
     

16. März
     
    Gestern sah ich morgens in den Spiegel und stellte erschrocken fest, daß ich anfange, meinem Paßfoto ähnlich zu sehen. Das Licht des nahenden Frühlings, reflektiert von spätem Schnee, hat vernichtende Folgen. — Wie sagte vor ein paar Jahren eine kleine Seehamerin der nicht-bäuerlichen Sphäre zu mir: »Mei, Frau Nadolny, Sie wenn Ihnen herrichten tat’n, Sie kunnten so guat ausschau’n.« Ein Pfeil mit Widerhaken, der noch immer im Fleisch sitzt. Es mußte also etwas geschehen.
    Da gibt es in der Stadt einen Schönheitssalon, an dem ich oft vorbeigegangen war. Ich sagte zu dem ernsthaften Geschäften nachgehenden Michael etwas vage, ich hätte noch zu tun, und betrat ihn. (Sollte ich Bekannte treffen, so war ich entschlossen, nach Kauf einer teuren Creme zum Rückzug zu blasen und nicht dergleichen zu tun.) Ich traf niemanden, war aber doch so gehemmt wie seinerzeit, als man mich in einer neuen Schule anmeldete. Wer sagt schon gern zu einem weißgewandeten, reizenden Wesen, das einem entgegenkommt: »Ich fühle mich häßlich. Bitte machen Sie mich schön.« Als ich noch nach passenden Worten rang, erschienen mehr und immer mehr weibliche Angestellte aus mit neckischen Volants verkleideten Kabinentüren, die sich mit strengen, aufmerksamen Blicken um mich versammelten. Eine drehte mich mit der Miene eines Engels vom Jüngsten Gericht und einem »Gestatten Sie« zum Licht und murmelte dann mit einem Seitenblick zu den anderen Engeln: »Jaja, Hmhm.«
    Ich wurde ganz klein und fühlte mich, als hätte ich mich seit einem halben Jahr nicht mehr gewaschen. Demütig ließ ich mich in eine der weißgolden dekorierten Kabinen führen. Froh, den vielen Blicken zu entgehen, sank ich in den überdimensionalen Sessel, der seiner Konstruktion nach ebenso für eine Rachenmandeloperation

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