Seehamer Tagebuch
Regen gelaufen ist, weil sie sich mit jemand zerstritten hat), gilt, genau wie für alle anderen Besucher: erst mal eine Tasse Kaffee, der Rest findet sich dann schon.
Diese letztere Geste entfällt, wenn schlichtgekleidete Besucher — die man zunächst für Waschmaschinenvertreter hält — den Garten betreten und dem die Hecke schneidenden Michael unvermutet die Frage stellen, ob er schon einmal über das Leben nach dem Tode nachgedacht hätte. »Aber ich tue ja nichts anderes«, erwidert Michael ungerührt und schnipst weiter, während Ligusterzweiglein rechts und links von ihm hinunterregnen. Nur manchmal gelingt es, durch unerwartete Repliken Angehörige fremder Sekten zum Verlassen unseres Anwesens zu bringen, ohne unhöflich werden zu müssen.
Doch ich kann der Besucher nicht gedenken, ohne daß mir ein Gast einfällt, der ähnlich wie Morgensterns Korff nicht wirklich vorhanden und doch überaus evident war. Er kam sozusagen beruflich ins Haus und beherrschte es monatelang. Es handelte sich um eine Chinesin namens Han Suyin, Autorin und Heldin eines Romans, den ich übersetzen sollte. Nie hat mich ein Gast derart mit Beschlag belegt. Schon die allerfrühesten Morgenstunden — unordentlich gekleidet — beschäftigte ich mich ausschließlich mit ihr. Es gab kein Kartoffelschälen, Stopfen oder Waschen, bei dem sie nicht neben mir gestanden hätte, und noch spät abends widmete ich mich ihr konzentriert an der Schreibmaschine. Papa (die Hand hinterm Ohr, um nichts zu verpassen) blieb dann neben mir, hörte sich ganze Absätze an, lobte, prüfte, verwarf, was ich nachzuempfinden und zu interpretieren mich abmühte. Die rätselhafte Chinesin schrieb zwar englisch, dachte aber chinesisch, sie saß mit uns zu Tisch, wurde uns allen vertraut, und da ich sie nicht persönlich fragen konnte, wie sie wohl dies und jenes gemeint habe, rang ich noch nachts im Traum mit ihr. Und wenn ich meinte, nun mein Äußerstes getan zu haben, dann schloß Michael sich mit der Dame in seinem Zimmer ein, und sie verfügte auch noch über seine Zeit. — Sie soll in irgendeiner exotischen Gegend leben, auf den Philippinen, glaube ich, und wird nie erfahren, daß sie so lange Gast in einem oberbayerischen Holzhaus gewesen ist. Neulich waren Gäste von jener Sorte hier, die fast mehr Leben in die Bude bringen, als der Arbeit zuträglich. Als sie fortfuhren, meinten sie (und hätten mich, wäre ich zehn Jahre jünger, dabei mit dem Finger unters Kinn gefaßt): »Wer auf dem Land lebt, darf sich in der Einsamkeit nicht völlig abschließen...« Ich habe das Gästebuch herausgeholt und darin geblättert. Zu einer solchen Mahnung besteht keinerlei Anlaß.
24 . März
Die von Grund auf faulen Typen erkennt man daran, wie sie an das Planen von Reisen herangehen. Der Gedanke an Veränderung, an das Maschinengewehrfeuer neuer Eindrücke läßt mich tief aufseufzen. Ich bin schon müde, ehe ich den Koffer heruntergeholt habe. (Als ich vierzehn Jahre alt war, sagte eine Dame zu mir: Du intensives Kind, du intensives, wie wird’s dir nur später ergehen...)
Anders ist es mit einer Stadtfahrt, die überschaubar ist und über die hinweg man schon das Menü für übermorgen planen kann. Setzen wir sie für Mittwoch an, so stöhne ich ab Montag über das viele Geld, das wir unnütz ausgeben werden, aber insgeheim bin ich begeistert. Michael geht abseits und ernsthaften Dingen nach, ich aber stürze mich sofort ins Gewühl. Man findet mich, wie ich in einem Ministerium entzückt mit dem Pasternoster durch Boden und Keller fahre. Warenhausportiers haben Mühe, mich von der Rolltreppe zu vertreiben, von der aus ich solch schönen Überblick über die im Preis zurückgesetzten Charmeuse-Unterröcke habe. (Einer der wesentlichsten Vorteile eines Sommerhauses auf dem Land scheint darin zu bestehen, daß es seine Bewohner so erlebnisfreudig erhält.)
Die Städter haben ja keine Ahnung, wie gut sie es haben! Bei ihnen tragen die Besucher nicht den Schmutz direkt vom Garten ins Wohnzimmer, nein, sie treten ihn fein säuberlich im läuferbelegten Treppenhaus ab, und dort putzt die Portiersfrau (in manchen Häusern). Sie brauchen auch die Abfälle nicht durch regennasse Wiesen zur Kiesgrube zu karren; es kommen starke, freundliche Männer mit gigantischen Blechwagen und holen sie ab. Die Brötchen werden ins Haus geliefert (in manchen Häusern), der Milchmann klingelt unten auf der Straße vor dem Haus, damit man die paar Schritte zum
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