Seelen der Nacht
selten zu finden. Hin und wieder wurde einer von nostalgischer Eitelkeit befallen und kam hierher, um in Erinnerungen zu schwelgen, aber das waren Einzelfälle.
Hexen und Dämonen findet man viel öfter in Bibliotheken. Gillian Chamberlain war heute hier gewesen und hatte mit einer starken Lupe ihre Papyri studiert. Und in der Musikbibliothek hielten sich definitiv zwei Dämonen auf. Als ich an ihnen vorbeigegangen war, um mir in der Buchhandlung nebenan einen Tee zu holen, hatten beide wie benebelt aufgesehen. Einer hatte mir aufgetragen, ihm einen Caffè latte mitzubringen, was erkennen ließ, wie tief er in seine Wahnvorstellungen versunken war, wie die auch immer aussehen mochten.
Nein, in diesem Augenblick hatte mich ganz eindeutig ein Vampir ins Auge gefasst.
Ich war schon einigen Vampiren begegnet, schließlich arbeitete ich auf einem Gebiet, auf dem ich viel mit anderen Wissenschaftlern zu tun hatte, und in den Laboratorien in aller Welt wimmelt es von Vampiren. Die Wissenschaft honoriert lange Studien und unerschöpfliche Geduld. Und weil Wissenschaftler meist für sich allein arbeiten, ließ sich ein Leben, das sich nicht über Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte erstreckte, viel leichter managen.
Heutzutage interessieren sich Vampire besonders für Teilchenbeschleuniger, Projekte zur Entzifferung des Genoms und für die Molekularbiologie. Früher hatten sie sich vorzugsweise in der Alchemie, Anatomie und Elektrophysik getummelt. Wenn es ordentlich knallte, wenn Blut im Spiel war oder versucht wurde, die Geheimnisse des Universums zu offenbaren, stieß man mit ziemlicher Sicherheit auf einen Vampir.
Ich drückte die mit unzulässigen Mitteln erlangte Ausgabe der Notes and Queries an meine Brust und drehte mich um. Er stand auf der anderen Seite des Raumes vor den paläografischen Nachschlagewerken und lehnte im Schatten an einem der eleganten Holzpfeiler, die die Galerie trugen. In seiner Hand lag eine aufgeschlagene Kopie von Janet Roberts Guide to Scripts Used in English Handwriting Up to 1500.
Ich hatte diesen Vampir noch nie gesehen – aber ich war ziemlich sicher, dass er keine Anleitung benötigte, um alte englische Handschriften zu entziffern.
Jeder, der schon mal einen Taschenbuch-Bestseller gelesen oder auch nur ferngesehen hat, weiß, dass Vampire atemberaubend aussehen, aber das kann einen nicht auf den Moment vorbereiten, in dem man tatsächlich einem von ihnen gegenübersteht. Sie sehen aus wie von einem genialen Bildhauer gemeißelt. Und wenn sie sich dann bewegen oder etwas sagen, kann dein Gehirn nicht einmal ansatzweise verarbeiten, was du siehst. Jede einzelne Bewegung ist voller Grazie; jedes Wort ist wie Musik. Ihre Augen fesseln dich, und genau so fangen sie ihre Beute. Ein langer Blick, ein paar ruhige Worte, eine Berührung: Hat dich ein Vampir erst eingesponnen, hast du keine Chance mehr.
Während ich diesen Vampir anstarrte, erkannte ich zunehmend verzagt,
dass mein Wissen in diesem Bereich dummerweise hauptsächlich theoretischer Natur war. Und dass es mir jetzt, wo ich tatsächlich einem Vampir gegenüberstand, wenig nutzte.
Der einzige Vampir, mit dem ich mehr als flüchtig bekannt war, arbeitete im nuklearen Teilchenbeschleuniger in der Schweiz. Jeremy war dünn und sah fantastisch aus, hatte strahlend blondes Haar, blaue Augen und ein ansteckendes Lachen. Er hatte mit so gut wie allen Frauen im Kanton Genf geschlafen und arbeitete sich inzwischen durch die Stadt Lausanne vor. Was er anstellte, nachdem er die Frauen verführt hatte, hatte ich nie genauer wissen wollen, und hatte seine hartnäckigen Einladungen, mit ihm auszugehen, ebenso hartnäckig ausgeschlagen. Ich hatte immer angenommen, dass Jeremy ein typischer Vertreter seiner Gattung sei. Aber verglichen mit dem Vampir, der jetzt vor mir stand, kam er mir klobig, ungelenk und sehr, sehr jung vor.
Dieser hier war groß – mindestens einen Meter neunzig, selbst unter Berücksichtigung der perspektivischen Verzerrung, die sich dadurch ergab, dass ich von der Galerie auf ihn hinabsah. Und er war ganz bestimmt nicht dünn. Breite Schultern verengten sich zu schlanken Hüften, die in geschmeidige, muskulöse Beine übergingen. Seine Hände waren atemberaubend lang und gelenkig und wirkten dabei so grazil, dass mein Blick immer wieder davon angezogen wurde, fast als müsste ich ergründen, wie sie zu einem so mächtigen Mann gehören konnten.
Während meine Augen ihn von Kopf bis Fuß abtasteten, lagen seine
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