Seelen der Nacht
fest auf mir. Aus dieser Entfernung wirkten sie nachtschwarz, und sie blickten unter ebenso schwarzen Brauen hervor, von denen eine wie ein Fragezeichen angehoben war. Sein Gesicht war wirklich atemberaubend – nichts als glatte Flächen und Kanten und dazu hoch angesetzte Wangenknochen. Oberhalb des Kinns war praktisch die einzige Stelle, an der Raum für etwas Weiches blieb – seinen breiten Mund, der genau wie seine langen Hände irgendwie nicht ins Bild passen wollte.
Aber nicht sein makelloser Körper machte mich so nervös. Sondern die raubtierhafte Kombination von Kraft, Behändigkeit und messerscharfer
Intelligenz, die durch den ganzen Raum hindurch zu spüren war. In seiner schwarzen Hose und dem hellgrauen Pullover, mit den dichten, aus der Stirn gekämmten und im Nacken kurz geschnittenen Haaren sah er aus wie ein Panther, der jeden Moment zuschlagen kann, es damit aber nicht eilig hat.
Er lächelte. Es war ein dezentes, höfliches Lächeln, bei dem er nicht die Zähne zeigte. Ich ahnte sie trotzdem und sah sie in Gedanken in zwei perfekten, scharfen Reihen hinter seinen blassen Lippen stehen.
Bei dem bloßen Gedanken an seine Zähne jagte ein solcher Adrenalinstoß durch meinen Körper, dass meine Fingerspitzen kitzelten. Plötzlich konnte ich nur noch denken: Du musst von hier verschwinden. SOFORT.
Die Treppe erschien mir viel weiter weg als die vier Schritte, die ich bis dorthin brauchte. Ich rannte nach unten, kam auf der letzten Stufe ins Straucheln und flog direkt in die wartenden Arme des Vampirs.
Natürlich hatte er vor mir den Fuß der Treppe erreicht.
Seine Finger waren kühl, und seine Arme fühlten sich eher nach Stahl an als nach Fleisch und Knochen. Der Duft von Nelken, Zimt und etwas wie Weihrauch lag in der Luft. Er richtete mich wieder auf, hob die Notes and Queries vom Boden auf und überreichte sie mir mit einer kleinen Verbeugung. »Dr. Bishop, nehme ich an?«
Von Kopf bis Fuß zitternd nickte ich.
Die langen, blassen Finger seiner rechten Hand tauchten in die Jackentasche und zogen eine blau-weiße Visitenkarte heraus. Er hielt sie mir hin. »Matthew Clairmont.«
Ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, zupfte ich die Karte mit spitzen Fingern aus seinem Griff. Dem vertrauten Wappen der Universität Oxford mit den drei Kronen und dem offenen Buch folgte Clairmonts Name und danach eine Reihe von Abkürzungen, denen ich entnehmen konnte, dass er in die Royal Society aufgenommen worden war.
Nicht schlecht für jemanden, der aussah wie zwischen Mitte und Ende dreißig, auch wenn ich annahm, dass er in Wahrheit mindestens zehnmal so alt war.
Und was sein Forschungsgebiet anging: Es überraschte mich nicht, dass der Vampir Professor der Biochemie war und mit der Oxford Neuroscience im John Radcliffe Hospital zusammenarbeitete. Blut und Anatomie – zwei Lieblingsgebiete der Vampire. Auf der Karte waren drei verschiedene Labortelefonnummern, dazu eine Büronummer und eine E-Mail-Adresse abgedruckt. Ich hatte ihn vielleicht noch nie gesehen, aber er war jedenfalls nicht unerreichbar.
»Professor Clairmont«, piepste ich, bevor mir alle weiteren Worte in der Kehle steckenblieben. Mit aller Kraft widerstand ich dem Drang, schreiend zum Ausgang zu rennen.
»Wir sind uns noch nicht begegnet«, fuhr er mit einem eigentümlichen Akzent fort. Hauptsächlich klang er nach Oxford und Cambridge, andererseits hatte sein Tonfall etwas Weiches, das ich nicht einordnen konnte. Seine Augen, die mir unbeirrt ins Gesicht blickten, waren eigentlich gar nicht so dunkel, entdeckte ich, sie wurden nur von riesigen Pupillen beherrscht, die von einem dünnen, graugrünen Irisring eingefasst waren. Ihr Sog war unwiderstehlich, und ich merkte, dass ich mich einfach nicht abwenden konnte.
Wieder bewegte sich der Mund des Vampirs. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit.«
Es war nicht völlig undenkbar, dass sich ein Professor der Biochemie für die Alchemie des siebzehnten Jahrhunderts interessierte, aber es kam mir doch reichlich unwahrscheinlich vor. Ich zupfte am Kragen meiner weißen Bluse und suchte kurz den Raum ab. Außer uns war niemand zu sehen. Niemand saß an dem alten Eichentisch mit den Karteikästen, niemand an den Computern. Und wer auch immer an der Rückgabetheke saß, war zu weit entfernt, um mir helfen zu können.
»Ich fand Ihren Artikel über die Farbsymbolik der alchemischen Transformation sehr überzeugend und Ihre Arbeit über Robert Boyles
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