Seelen der Nacht
College und spürte, wie etwas von der Anspannung aus meinem Körper wich, sobald der Torflügel hinter mir ins Schloss fiel, gerade als würden jede Tür und jede Wand, die ich zwischen mich und die Bibliothek gebracht hatte, mich zusätzlich schützen. Ich huschte unter den Kapellenfenstern entlang und durch den schmalen Durchgang in den Kolleghof. Von hier aus konnte man auf den einzigen noch existierenden mittelalterlichen Garten in Oxford sehen, wo es sogar einen jener traditionellen Hügel gab, die den Studenten von einst beim Nachsinnen über die Mysterien Gottes und der Natur einen grünen Ausblick bieten sollten. Heute Abend kamen mir die spitzen Türme und Bogen des Colleges ganz besonders gotisch vor, und ich konnte es kaum erwarten, ins Gebäude zu kommen.
Als die Tür zu meinem Apartment hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Ich wohnte ganz oben in einem der Aufgänge, die den Fakultätsangehörigen vorbehalten waren, und zwar in einer der Unterkünfte, die für ehemalige Mitglieder auf Besuch reserviert waren. Meine Räume, die aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer mit rundem Esstisch und einer kleinen, aber anständig ausgestatteten Küche bestanden, waren mit alten Drucken und einer warmen Wandtäfelung dekoriert. Die Einrichtung sah aus, als bestünde sie aus ausgemusterten Möbeln aus dem Gemeinschaftsraum und der Wohnung des Dekans, wobei das Schwergewicht auf durchgesessenen Stücken des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts lag.
In der Küche schob ich zwei Scheiben Brot in den Toaster und schenkte mir ein Glas kaltes Wasser ein. Ich trank es mit tiefen Schlucken und öffnete dabei das Fenster, um die kühle Luft in meine stickigen Gemächer zu lassen.
Mit meinem Imbiss in der Hand kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, streifte dort die Schuhe von den Füßen und drehte die kleine Stereoanlage auf. Die klaren Klänge eines Mozartstückes erfüllten die Luft. Dann ließ ich mich in eines der rotbraun gepolsterten Sofas
sinken, in der festen Absicht, nur kurz auszuruhen, anschließend ein Bad zu nehmen und hinterher meine heutigen Notizen durchzugehen.
Um halb drei Uhr in der Nacht erwachte ich mit klopfendem Herzen, steifem Hals und einem eindeutigen Nelkengeschmack im Mund.
Ich holte mir ein Glas Wasser und schloss das Küchenfenster. Es war frisch geworden, und die feuchte Luft ließ mich frösteln.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr und einer schnellen Überschlagsrechnung beschloss ich, zu Hause anzurufen. Dort war es erst halb elf Uhr abends, und Sarah und Em waren die reinsten Fledermäuse. Ich wanderte durch die Zimmer, schaltete dabei alle Lichter aus, bis auf das in meinem Schlafzimmer, und hatte im Nu meine schmutzigen Sachen – wie kann man sich in einer Bibliothek nur so schmutzig machen? – abgestreift und war in eine alte Yogahose sowie einen schwarzen Pulli mit ausgeleiertem Rollkragen geschlüpft. Beides war bequemer als jeder Pyjama.
Das Bett war angenehm und fest unter meinem Rücken und hätte mich beinahe überzeugt, dass ich nicht zu Hause anzurufen brauchte, so beruhigend wirkte es auf mich. Aber das Wasser hatte den Nelkengeschmack nicht ganz aus meinem Mund vertreiben können, darum nahm ich mein Handy und wählte die Nummer.
»Wir haben schon auf deinen Anruf gewartet«, waren die ersten Worte, die ich zu hören bekam.
Hexen.
Ich seufzte. »Es geht mir gut, Sarah.«
»Es deutet alles auf das Gegenteil hin.« Wie gewöhnlich kannte die jüngere Schwester meiner Mutter kein Pardon. »Tabitha ist schon den ganzen Abend aufgekratzt. Em hat ein klares Bild von dir empfangen, auf dem du völlig verloren dastehst, und ich habe seit dem Frühstück keinen Bissen mehr herunterbekommen.«
Das wirkliche Problem war diese verdammte Katze. Tabitha war Sarahs Baby und erspürte mit gespenstischer Präzision alle Spannungen innerhalb der Familie. »Es geht mir gut. Ich hatte heute Abend in der Bibliothek eine unerwartete Begegnung, das ist alles.«
Ein Klicken verriet mir, dass Em den zweiten Hörer abgenommen hatte. »Warum feierst du nicht Mabon?«, fragte sie.
Seit ich denken konnte, war Emily Mather ein Fixpunkt in meinem Leben. Sie und meine Mutter hatten sich während ihrer Highschoolzeit bei einem Ferienjob auf der Plimoth Plantation kennengelernt, wo sie für die Archäologen Löcher gegraben und Schubkarren geschoben hatten. Sie waren erst beste Freundinnen und anschließend, als Emily zum Studium nach Vassar und meine Mutter nach
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