Seelengift
wenn sie ihn jetzt damit konfrontierte, dass er Irmgard Gruber umgebracht hatte?
Solange wir miteinander reden, bringt er dich nicht um.
Das war ihr Plan gewesen. Ein kümmerlicher, erbärmlicher Plan. Sie hatte es gewusst, aber in Ermangelung von Alternativen hatte ihr dieses Wissen nichts genützt. Jetzt sah sie in seine Augen, und ihr Magen drehte sich um. Nichts als Wut war darin zu sehen, irrsinnige, wilde, alles verzehrende Wut. Wenn sie vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte, dann war es vorbei. Dann würde sie ihm nicht mehr entkommen können, nicht mit Worten und auch sonst nicht. So musste es Irmgard Gruber ergangen sein. Sie hatte wahrscheinlich gar nicht begriffen, worum es ging. Hatte nur diese Wut in seinen Augen gesehen und seine Hände an ihrer Kehle gespürt. Wie sie zudrückten und zudrückten … Clara schnappte nach Luft und griff sich unwillkürlich an den Hals.
»Sie haben Irmgard Gruber ermordet. Das ist Ihre Schuld!«, sagte sie leise und versuchte, das unkontrollierbare Zittern zu unterdrücken, das jetzt ihren ganzen Körper erfasst hatte.
»NEIN!«
Er heulte wie ein Tier auf, und Clara duckte sich, aus Angst, er werde nach ihr greifen. Doch nichts geschah. Er saß da, starrte ins Leere und klammerte sich mit den Händen an der Tischkante fest.
»Nein.«
Jetzt war es nur noch ein Flüstern. Clara richtete sich langsam wieder auf und wartete. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte, und sie wusste nicht, was passieren würde. Die Sekunden vergingen. Irgendwo in der Küche tickte eine Uhr. Tick. Tick. Tick. Gerlach saß wie versteinert, sein Gesicht zu einer Maske verzerrt, nur seine Augen, diese beunruhigend hellen, wassergleichen Augen bewegten sich, zuckten, als bemühten sie sich, ein wildes Tier im Zaum zu halten, das sich dahinter verborgen hatte und jetzt auszubrechen drohte. Clara konnte nicht anders, als Josef Gerlach ihrerseits anzustarren wie das Kaninchen die Schlange. Er würde sie töten. Sie würde sterben. Hier, in dieser Wohnung, von der sie nicht einmal wusste, wo sie sich befand. Und plötzlich wurde sie ganz ruhig. Alle Angst wich von ihr, sie streifte sie ab wie ein lästiges Kleid, stieg darüber hinweg und war frei. Fühlte sich so das Sterben an? Kein Licht am Ende eines Tunnels, stattdessen Freiheit? War es das, was Gerlach gemeint hatte, als er von der Stille der Gedanken sprach? Clara sah auf ihre Hände, die ruhig im Schoß lagen. Das Zittern hatte aufgehört. Sie waren kalt und fühlten sich fremd und entfernt an, als ob sie ihr nicht gehörten. Vielleicht war sie schon tot? Irgendwann in den letzten Stunden des Schreckens gestorben und hatte es nicht bemerkt. Vielleicht hatte er sie tatsächlich getötet, dort in dem Hinterzimmer des Ladens …
Seine Stimme brachte sie zurück.
»Sie war selbst schuld!«, sagte er plötzlich.
Clara zuckte zusammen. Sie war noch nicht tot. Sie saß hier an diesem leeren Tisch mit Josef Gerlach und musste reden. Ihn am Reden halten. Sie musste alles erfahren.
»Irmgard Gruber hat so getan, als verstünde sie nicht …«
»Sie hat nicht nur so getan. Sie wusste wirklich nicht, was
mit ihr passierte. Und warum.« Claras Stimme klang fremd in ihren Ohren.
»Aber sie ist doch zu mir gekommen! Genau so, wie Sie gekommen sind! In den Laden! IN MEINEN LADEN!« Gerlachs Stimme war wieder kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.
»Sie hat Geschenke für den Neffen eines Freundes gekauft. Sie hat Ihnen sicher von Rudi erzählt! Irmgard Gruber kannte Sie vorher nicht! Sie hatte keine Ahnung von Gerlinde Ostmann und den Ermittlungen ihres Mannes.«
»Das glaube ich nicht!« Seine Augen flogen hin und her, huschten unruhig von einer Zimmerecke zur anderen, auf der Suche nach Halt.
»Wenn Gruber gewusst hätte, dass Sie etwas mit Gerlinde Ostmann zu tun hatten, hätte er Sie doch vorgeladen! Und seine Frau lebte längst von ihm getrennt, das wissen Sie doch sicher auch. Sie kannte seine Fälle überhaupt nicht.«
Gerlach schüttelte den Kopf: »Nein. Sie waren die Jäger. Die Jäger hetzen dich, sie kreisen dich ein, sie spielen mit dir, bis du erschöpft am Boden liegst und nicht mehr weiter kannst. Dann stecken sie dich in eine Zelle und lassen dich verrotten.«
»Warum glauben Sie das?« Clara hatte das Gefühl, unter einer Glasglocke zu stecken. Ihre eigenen Worte hallten in ihren Ohren wider, und sie wunderte sich, dass sie überhaupt bei Gerlach ankamen.
»Ich bin böse … ein böses Tier, ein widerlicher
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