Seelengift
hören, wie er sich irgendwo draußen übergab. Sie starrte die offene Tür an, und es dauerte eine Weile, bis sie reagierte. Vorsichtig ging sie hinaus in die Küche, noch immer hörte sie sein Husten. Sie schlich auf den Flur. Die Geräusche kamen aus dem Bad. Die Tür war nur angelehnt. So schnell es ging, ohne ein Geräusch zu machen, schob sie sich an der halboffenen Tür vorbei. Sie hatte sich richtig erinnert: Dort am Ende des Flurs war die Haustür. Eine weiß gestrichene Tür mit einem Spion in der Mitte und einer vorgelegten Türkette. Kein Schlüssel steckte im Schloss. Sie schlich weiter. Nur noch ein knapper Meter trennte sie von der Tür. Vielleicht hatte sie Glück. Jetzt hatte das Husten aufgehört, und Clara hörte Wasserrauschen. Sie nutzte das laute Geräusch, machte einen Satz auf die Tür zu und löste die Kette. Dann drückte sie die Klinke. Die Tür war verschlossen. Sie hämmerte dagegen, begann zu schreien: »Hilfe!«
Doch da war er schon hinter ihr und versetzte ihr einen groben Stoß gegen den Hinterkopf. Sie krachte mit dem Gesicht gegen die Tür, ein stechender Schmerz durchzuckte
ihre Stirn, und sie ging zu Boden. Benommen versuchte sie, sich aufzurichten. Blut rann in ihr rechtes Auge. Sie hob die Hand, tastete ihr Gesicht ab und berührte eine Wunde an der Augenbraue. Das scharfe Metall des Türspions hatte ihr die Augenbraue aufgerissen. Sie drehte sich um.
Gerlach stand einige Schritte von ihr entfernt und betrachtete sie. »Warum tun Sie das?«, fragte er traurig. »Warum hintergehen Sie mich?«
Clara hustete und schmeckte Blut. Offenbar hatte auch ihre Nase unter dem Stoß gelitten. Sie stand jetzt, mit einer Hand an die Tür gestützt. »Ich hintergehe Sie nicht«, stammelte sie mühsam. »Wirklich nicht. Ich … habe Angst.«
»Wovor haben Sie Angst?« Er kam einen Schritt näher, sah ihr interessiert ins Gesicht, wie ein Forscher sein Objekt anschaut.
»Wovor genau haben Sie Angst?«, wiederholte er seine Frage und drehte den Kopf weg.
»Ich …« Sie stockte, trotz dieser absurden Situation, trotz ihrer Angst vor dem Mann fiel es ihr schwer zu antworten. Es war, als riefe sie mit ihrer Antwort die Folgen herbei. Doch sie musste etwas sagen, sie musste ihm antworten. Sie sah zu Boden, sah das Blut, das von ihrem Gesicht auf den Läufer tropfte, und sagte dann leise: »Ich habe Angst davor zu sterben.«
Er nickte befriedigt. »Alle haben Angst zu sterben«, sagte er, und es klang sanft, so als wolle er sie trösten. »Dabei ist sterben nicht so schlimm. Man ist einfach tot, verstehen Sie?«
Clara schwieg.
»VERSTEHEN SIE?«
Sie schüttelte trotzig den Kopf. »Nein. Das verstehe ich nicht.«
Gerlachs Hände regten sich langsam, wie in Zeitlupe, er bewegte jeden einzelnen Finger, als prüfe er, ob sie noch funktionstüchtig waren. »Dann herrscht Stille. Stille im Kopf. Stille um einen herum. Alles ist rein und still und sanft.«
Clara richtete sich auf und ließ die Tür los. »Was fürchten Sie, wenn Sie keine Angst vor dem Tod haben?«, fragte sie und drückte ihren Handrücken auf die blutige Augenbraue.
»Ich?« Er sah noch immer auf seine Hände, doch Clara war sich sicher, dass er jede ihrer Bewegungen registrierte. »Ich fürchte mich vor …«, seine Stimme war so leise, dass Clara ihn kaum verstehen konnte. »… vor den Gedanken.«
Clara runzelte die Stirn, sie verstand nicht genau, was er damit meinte, aber sie wagte nicht nachzufragen. Stattdessen sagte sie: »Hätten Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?« Fast hätte sie gelacht, angesichts der Absurdität der Situation: Er hatte ihr fast die Nase gebrochen, und sie erkundigte sich höflich nach einem Taschentuch.
Doch Josef Gerlach nickte, als wäre diese Frage vollkommen selbstverständlich, und deutete auf die Toilettentür. »Kommen Sie!«, befahl er.
Clara setzte sich mühsam in Bewegung.
Er wartete vor der Tür auf sie, als sie wieder herauskam.
Claras Blick fiel auf die Haustür, und sie sah, dass sich eine verschmierte Blutspur vom Türspion hinunterzog und dann auf halber Höhe verblasste. Ihr Blut. Sie schauderte, und es fiel ihr schwer, das Zittern, das sie erfasst hatte, unter Kontrolle zu bekommen. Es hatte keinen Sinn. Sie musste die Geschichte anders angehen. Noch so ein gescheiterter Fluchtversuch, und er würde sie umbringen.
Er ist ein armer Teufel, sagte sie stumm bei sich, baute den Satz wie ein Bollwerk gegen ihre Panik auf. Er leidet mindestens so wie du. Es half ihr
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