Seelengift
silbernen Ring und starrte auf die Schlüssel, die schwer und warm in ihrer Hand lagen. Sollte sie … durfte sie … einfach so …? Würde er sie tatsächlich gehen lassen? Sie hatte verstanden, was er gesagt hatte, doch die Botschaft drang nur verzögert in ihr Gehirn und löste keine
Reaktion aus. Es war, als hätten sich ihr Verstand, ihr Körper, all ihre Sinne so auf einen gänzlich anderen Ausgang der Geschichte eingestellt, dass sie jetzt nicht in der Lage waren, so schnell umzulenken. Nach einer Weile gelang es ihr dennoch aufzustehen.
Wie eine Schlafwandlerin ging sie durch die Küche, registrierte die Uhr an der Wand, die sie die ganze Zeit ticken gehört hatte, den Stapel gestärkter und auf Kante gebügelter Geschirrtücher auf der Arbeitsfläche, das Desinfektionsmittel neben der Spüle. Dann trat sie auf den Flur. Die erste Tür links stand offen, und Clara warf einen Blick hinein. Es war das Wohnzimmer. Muffige, abgestandene Luft drang heraus. Ein mit Gobelinstoff bezogenes Sofa in Eiche rustikal stand an der der Tür gegenüberliegenden Wand, daneben ein dazu passender Stuhl. Ein kitschiges Landschaftsbild mit schwülstigem Goldrahmen hing über dem Sofa. Die ehemals weiße Raufasertapete war uralt und in den Ecken dunkelgrau vor Staub. An der Decke hing ein mehrarmiger Leuchter aus Holz mit kugelförmigen Glasschirmen, die ein gelbliches, krankes Licht verbreiteten. Gerlach stand mit herunterhängenden Armen mitten im Raum und starrte zu Boden. Clara folgte seinem Blick unwillkürlich, doch es gab nichts zu sehen. Auf dem Boden lag ein alter Teppich, ausgetreten und schäbig, das Muster, die billige Imitation eines Perserteppichs, war stellenweise bis zur Unkenntlichkeit verblichen. Gerlach stand einfach da und starrte darauf. Clara wollte gehen, doch sie konnte nicht. Obwohl sie gerade eben noch davon überzeugt gewesen war, sterben zu müssen, hatte sie Mitleid mit dem Mann.
»Kommen Sie mit«, bat sie leise. »Stellen Sie sich der Polizei.«
Gerlach schüttelte den Kopf. »Gehen Sie weg.«
»Aber …«, begann Clara, doch da drehte sich Gerlach zu ihr hin und schrie sie mit sich überschlagender Stimme an:
»HAUEN SIE ENDLICH AB!«
Und Clara ging. Mit zitternden Fingern versuchte sie, die Tür aufzusperren, doch die Schlüssel glitten ihr immer wieder aus der Hand, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie den richtigen Schlüssel fand und ihn ins Schloss stecken konnte. Die ganze Zeit saß ihr die Angst im Nacken, dass das Ganze nur ein Spiel war, dass Gerlach jeden Augenblick herauskommen und sie wieder packen würde. Doch aus dem Wohnzimmer drang kein Laut. Mit fliegenden Händen drehte sie schließlich den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke. Die Tür ging auf. Kühle Luft strömte aus dem dunklen Treppenhaus herein. Sie tastete nach dem Lichtschalter und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das laute, satte Geräusch durchzuckte sie wie ein Stromschlag.
Langsam und wie in Trance ging sie die flachen, ausgetretenen Holzstufen hinunter. Erster Stock, murmelte sie, als ob es noch eine Rolle spielte. Erster Stock. Als sie die Haustür öffnete, fiel ihr auf, dass sie die Hausschlüssel noch in der Hand hielt. Sie zögerte einen Augenblick, und in dem Moment hörte sie von oben ein Geräusch. Kein Geräusch, einen Ton. Sie hob den Kopf und lauschte. Es war das Akkordeon. Er spielte die Melodie, die sie heute Morgen schon aus ihrem bleiernen Schlaf geweckt hatte. Clara sah nach draußen. Eine schmale, stille Straße, eine schmucklose, dunkle Häuserzeile. Es schneite nicht mehr, auch lag nirgends mehr Schnee. War es Samstag oder Sonntag? Wie spät mochte es sein? Es gelang ihr nicht, sich von dem Akkordeonspiel zu lösen. Sie blieb in der Tür stehen, zitternd vor Kälte und Josef Gerlachs Hausschlüssel in der Hand. Warum hatte er sie gehen lassen? Sie hatte in seinen Augen gesehen, dass er den Kampf mit seiner
Wut nicht gewinnen würde, nicht gewinnen konnte. Er war in sich gefangen wie ein Tier im Käfig. Warum also hatte er sie plötzlich gehen lassen? Ein seltsamer Geruch drang ihr plötzlich in die Nase. Sie schnupperte, und dann fiel ihr die Plastikflasche ein, die er aus dem Schrank unter der Spüle genommen hatte. Kein Wasser, natürlich nicht! Es war etwas Brennbares, Terpentin oder Waschbenzin. Und das war es auch, was sie jetzt roch: Rauch, Feuer.
Er wollte den Kampf gar nicht gewinnen. Er wollte Ruhe. Stille. Keine Gedanken mehr, die ihn quälten.
Mit
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