Seelengift
Kartoffelsack …«
»Quatsch!« Clara schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass Gerlach zusammenzuckte und sie selbst erschrak. Die Glasglocke zerbrach lautlos. Die Scherben legten sich wie ein Frösteln auf Claras Haut. Plötzlich war sie wieder lebendig.
Sie erhob ihre Stimme: »Glauben Sie tatsächlich, wir könnten hier so gemütlich miteinander plaudern, wenn die Polizei wüsste, wer Sie sind? Walter Gruber weiß nicht, wer Sie sind, und Irmgard Gruber wusste es erst recht nicht. Sie ist in Ihren Laden gekommen, um einem kleinen Jungen eine Freude zu machen. Und Sie haben sie getötet. Mit bloßen Händen erwürgt, nur weil Sie sich irgendeinen Schwachsinn zusammengereimt haben.« Sie atmete heftig. Es war ihr egal, ob sie mit ihren Worten vielleicht endgültig ihr Todesurteil unterschreiben würde. Sie konnte sich nicht mehr ducken. Sie war über die Angst hinausgetreten und konnte nicht mehr zurück.
»Irmgard Gruber war sehr nett«, sagte Gerlach, als habe er Claras Worte gar nicht gehört. »Anfangs hat sie nur mit mir geredet, einfach nur geredet, so als ob sie keine Hintergedanken hätte. Wollte eine Menge Dinge über Modelleisenbahnen wissen.« Sein Gesicht entspannte sich etwas, und sein Mund verzog sich zu der Andeutung eines schüchternen Lächelns. »Ich wusste, dass sie Grubers Frau war. Ich wusste alles über Gruber. ALLES! Verstehen Sie? ALLES! Man muss seine Feinde kennen. Ihnen einen Schritt voraus sein. Man darf die Kontrolle nicht verlieren. Deswegen war ich anfangs auch misstrauisch, als sie plötzlich bei mir im Laden stand. Natürlich war ich das! Sie hat sich zu der kleinen Bahn in der Vitrine hinuntergebeugt, genauso, wie Sie das getan haben! Ich dachte mir, wenn Gruber mich auf diese Weise aushorchen will, muss er früher aufstehen. Das kann ich auch. Ich dachte, vielleicht kann ich ihr Vertrauen gewinnen, und sie erzählt mir von Grubers Plänen … Ich war so dumm.« Er senkte beschämt den Kopf. »Ein Dummkopf war ich. Und erfahren habe ich gar nichts. Sie hat nichts gesagt. Sie hat Gruber überhaupt nicht erwähnt. Auch wollte sie nichts über
mich wissen, nichts über Gerlinde Ostmann. Sie hat immer nur geplaudert. Übers Wetter und den Verkehr auf der Leopoldstraße. Hat sich interessiert, für Loks, für Modellbausätze, und immer, immer wieder hat sie etwas gekauft. Für Rudi: ›Das ist für Rudi. Das wird Rudi gefallen.‹«
Er atmete ruckartig ein. Es klang wie ein Schluchzer. Seine Augen stellten ihr unruhiges Flattern und Flüchten ein und wurden ruhiger. Mit einem Mal lösten sich seine Hände aus der Verkrampfung und ließen die Tischplatte los. Er legte sie vor sich auf den Tisch und sah Clara nachdenklich an. Plötzlich schien er fast normal zu sein. »Wir waren ein paar Mal zusammen Kaffee trinken. In dem Café oben an der Münchener Freiheit. Es war schön. Sie war so nett. So als ob sie … Ich weiß nicht, warum ich so dumm sein und glauben konnte, dass … dass … dass sie …« Er brach ab und senkte den Blick auf seine Hände.
»Sie haben angefangen zu glauben, Irmgard Gruber könnte Sie einfach nur mögen und nichts anderes im Schilde führen?«, fragte Clara. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu betrachtete sie Gerlachs geschundene Hände. An den Kuppen und an den Rändern der kurzgeschnittenen Fingernägel trat das wunde Fleisch hervor, rot und entzündet. Die Knöchel und die Handrücken waren übersät mit frischen Schürfwunden und alten Narben. Womit wusch sich dieser Mann die Hände? Mit Salzsäure? Clara schauderte und verspürte gleichzeitig den unheimlichen Impuls, ihre Hände auf die seinen zu legen, um die Wunden zu verdecken. Sie schob ihre eigenen Hände rasch unter ihre Oberschenkel, als müsse sie sie festhalten.
Gerlach nickte. »Das habe ich geglaubt«, sagte er leise. »Dann, vor ungefähr zwei Wochen, hat sie mir erzählt, dass Rudi im Februar Geburtstag hat und sie deshalb ein besonderes
Geschenk für ihn bräuchte. Ich habe gesagt, ich würde mir etwas überlegen. Ich dachte, wenn ich für Rudi etwas ganz Besonderes fände, könnte ich damit auch ihr eine Freude machen. Da bin ich auf die Lok gekommen …«
»Die blaue Mauritius«, sagte Clara leise, und Gerlach warf ihr einen überraschten Blick zu, doch dann nickte er, entmutigt von seiner eigenen Begriffsstutzigkeit.
»Natürlich. Die rote Jägerin weiß ja alles.«
»Ich habe Ihr Geschenk ganz zufällig gefunden«, erklärte Clara. »Es lag im Garten
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