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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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hätte sie niemand anderen als Jules im Raum gesehen und bestenfalls ein leichtes Prickeln auf ihrer Haut gespürt.
    Als ich vor ein paar Tagen das erste Mal in ihren Geist eingedrungen war, war es mir nur darum gegangen, ihre Gefühle zu beeinflussen, um sie dazu zu bringen, hierzubleiben. Ich hatte ihr zwar auch den Drang nach Alkohol genommen, doch ich war nicht weit genug vorgedrungen, um an ihre Erinnerungen zu gelangen.
    Dieses Mal streckte ich meine Fühler weiter in die Tiefen ihres Verstandes aus. Stück für Stück arbeitete ich mich in ihre Vergangenheit vor. Vorbei an Bildern, die Jules zeigten, wie sie ihr die Flaschen abnahm, sie in die Notaufnahme fuhr oder ihrer Mutter ins Bett half, tastete ich mich voran. Juleswurde jünger und jünger. In den Erinnerungen, in denen sie am glücklichsten aussah, musste sie etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Karen war auch damals längst abhängig, doch Jules war zu jung, um die Anzeichen zu erkennen, und Karen hatte es noch fertiggebracht, sich um alles zu kümmern. Damals waren sie glücklich gewesen. Zumindest so glücklich, wie es eine Frau mit Karens Lebenslauf sein konnte.
    Je näher ich Jules’ Geburt kam, desto verwaschener wurden die Bilder, und kurz vor ihrer Geburt stieß ich auf eine Mauer. Ich versuchte weiter vorzudringen und gelangte schließlich an die verschwommenen Bilder eines Mannes, der Karen erklärte, dass er nie Kinder gewollt habe und nicht bereit sei, jetzt eines zu bekommen.
    Viel zu undeutlich, als dass es sich dabei um eine echte Erinnerung hätte handeln können. Ich erkannte eine Lüge, wenn ich sie sah, und diese hier war so oberflächlich, dass es mich nicht einmal einen zweiten Blick kostete, um die Wahrheit zu erkennen: Jemand hatte Karen MacNamaras Geist manipuliert.
    Und dieser Jemand war nicht ich.
    Entschlossen bohrte ich weiter, grub mich durch die undeutlichen Erinnerungen, bis sie unter meinem Vordringen wie Glas zersplitterten. Plötzlich wurde das Bild wieder klar, und ich wusste, dass ich die Schicht aus Lügen durchbrochen hatte.
    Eine rasche Abfolge von Erinnerungen blitzte vor meinen Augen auf, und immer zeigten sie ein ähnliches Bild: Karen zusammen mit einem Mann, wie sie sich verliebte Blicke zuwarfen.
    Jules’ Vater sah ihr erstaunlich ähnlich. Ein Umstand, der mich zwingen würde, noch vorsichtiger vorzugehen, um niemanden auf dumme Gedanken zu bringen, der Jules sah und ihren Vater zufällig kannte.
    Er hatte dasselbe schwarze Haar wie seine Tochter, wenngleich er es kürzer trug, und ähnlich weiche Züge. Mit diesem Gesicht hätte er weibisch aussehen sollen, doch seine muskulöse Statur sorgte dafür, dass es ihm bestenfalls etwas Weiches verlieh, aber ganz sicher nichts Weibisches.
    Immer weiter arbeitete ich mich vor und hatte schon bald keine Zweifel mehr daran, dass sie einander wirklich geliebt hatten. Er hatte Karen nicht nur seinen wirklichen Namen, sondern auch die Wahrheit über seine Herkunft offenbart. Anfangs hatte sie ihm nicht einmal geglaubt, als Tahiel sich ihr mit seinen Flügeln zeigte. Ein Anblick, der mir einen Stich versetzte. Ich verdrängte meine eigenen Gefühle jedoch sofort wieder – Himmel, ich sollte mich besser daran gewöhnen, denn ich würde den Rest meines Lebens mit geflügelten Engeln zu tun haben! – und konzentrierte mich auf das, was ich sah.
    Tahiels und Karens Glück endete an dem Tag, an dem sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Es war der Moment, in dem er begriff, was er getan hatte und dass er nicht nur sich selbst in Gefahr brachte. Sein Kind wäre ein Nephilim. Ein Halbwesen, das von seinesgleichen verfolgt und getötet werden würde. Er wusste, dass er das Kind zum Tode verurteilt hätte, wenn er in der Nähe geblieben wäre.
    Um Karen die Trennung zu erleichtern, hatte er ihren Geist manipuliert. Er nahm ihr die Erinnerung an sein wahres Ich und pflanzte ihr stattdessen das verschwommene Bild eines Mannes ein, der sich in dem Augenblick aus dem Staub gemacht hatte, in dem er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Er mochte sich als Drückeberger und Feigling in Karens Gedächtnis eingenistet haben, doch dieser Trottel hatte der Versuchung nicht widerstehen können, ihr die Erinnerung an die aufrichtige Liebe und die großen Gefühle zu lassen, die sie verbunden hatten. Daran war sie zerbrochen.
    Da ich wusste, dass sie Tahiel niemals verraten würde, und ich sie nicht länger leiden sehen konnte, löste ich den Schleier, den er über ihren Geist gelegt

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