Seelenglanz
definitiv ein weiterer Nachteil meines ungeliebten Jobs. Früher hatte ich mir meine Zeit selbst einteilen können. Heute waren es meine Aufträge, die meine Zeitpläne bestimmten.
»Was für ein erfülltes Dasein«, sagte ich. »Mitten in der Nacht auf Hausdächern herumstehen und warten. Genau das, wonach ich mich in den letzten Jahrtausenden gesehnt habe.«
»Es ist für einen guten Zweck.«
Ich schnaubte. »Ich pfeife auf deinen guten Zweck! Verflucht, ich war einmal jemand, vor dem andere Respekt hatten. Und was bin ich jetzt? Ein Schutzengel. Uriel hat michzu etwas gemacht, auf das alle anderen Engel herabsehen. Das soll die Dankbarkeit des Hüters sein? Dann möchte ich nicht wissen, was passiert, wenn er angepisst ist.«
Ich atmete einmal tief durch und rief mir ins Gedächtnis, warum ich hier war. Es ging nicht um diesen Bengel, der hier ohne mein Eingreifen sein Leben aushauchen würde – mein eigentlicher Auftrag war ein anderer. Und den würde ich erfüllen, so wie ich bisher jeden meiner Aufträge erfüllt hatte.
»Ich habe dich gestern in der Bar gesehen«, sagte Akashiel, ohne den Blick von der Straße unter uns zu nehmen. »Zusammen mit dieser Frau.«
Ich zuckte die Schultern.
»Du weißt ganz genau«, fuhr er mit seiner Moralpredigt fort, »dass es unseresgleichen verboten ist, sich mit Menschen einzulassen. Du kennst die Strafe, die darauf steht, wenn sie dich erwischen.«
»Es war nicht der Engel, der sich gestern an die Kleine rangemacht hat, sondern Kyle O’Neil.« Das war meine menschliche Identität, unter der ich mich in der Welt bewegte, meine täglichen Besorgungen erledigte, bei meinen Nachbarn bekannt war, und es war auch der Name, der in all meinen Ausweispapieren stand.
Wir alle, ganz gleich ob Gefallene oder Schutzengel, hatten menschliche Alter Egos. Als Gefallener konnte ich mich damit vollkommen zwanglos unter den Menschen bewegen, Kontakt zu ihnen aufnehmen und sie für meine Zwecke aushorchen und manipulieren. Die Schutzengel verfügten über diese menschliche Identität, um keinen Verdacht zu erregen. Sie wohnten in ganz normalen Häusern und Wohnungen, da wäre es wohl merkwürdig, wenn die Nachbarn nie jemanden zu Gesicht bekämen. Zusätzlich sollte diese zweite Identität es ihnen ermöglichen, sich unter die Menschen zumischen und sie besser verstehen zu lernen. Das Prinzip im Umgang mit Menschen lautete: Schauen ist erlaubt, aber nicht anfassen!
»Gegen meine menschliche Tarnung kann doch wohl unmöglich etwas sprechen, oder? Immerhin begebe ich mich unter Menschen, versuche nicht aufzufallen und keinen Argwohn zu erregen. Hätte ich die Kleine abblitzen lassen, wäre sie sicher misstrauisch geworden. So war ich nichts weiter als ein Typ, mit dem sie eine Nacht verbracht hat. Jemand, den sie als normalen Menschen in Erinnerung behalten wird. Und natürlich als guten Liebhaber.«
In Wahrheit war ich nicht einmal mit ihr nach Hause gegangen und hatte erst recht nicht mit ihr geschlafen. Akashiel wusste, dass ich ihn nur aufzog. Allerdings stand tatsächlich in keinem der Gesetze geschrieben, dass sich unsere menschlichen Alter Egos von den Menschen, ganz besonders den Frauen, fernhalten mussten. Lediglich den Engeln war es verboten. Wortklauberei – aber darin war ich schon immer gut gewesen.
Für mich als Gefallener hatte die Grenze, die die Engel von den Menschen trennte, nie existiert. Ich hatte mich mit ihnen einlassen und sie verführen können, wann immer es mir gelegen gekommen war. Nicht selten hatte ich eine Frau mit meinem Charme um den Finger gewickelt, doch das alles hatte nur selten mit wirklicher Lust zu tun gehabt, dafür allzu oft damit, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wenn ich eine Frau erst einmal in meinem Bett gehabt hatte, konnte ich sie dazu bringen, nahezu alles für mich zu tun. Ein glücklicher Umstand, der es mir häufig erleichtert hatte, meine Aufträge zu erfüllen, mir aber – abgesehen von ein wenig körperlicher Befriedigung – kein weiteres Vergnügen bereitet oder gar Gefühle in mir geweckt hatte.
Für den Augenblick lag das ohnehin hinter mir, denn solangeich kein Gefallener mehr war, war die Grenze zu den Menschen eine, die ich niemals überschreiten durfte. Das hatte ich auch nicht vor. Ich würde nicht riskieren, dass sie mir wegen so eines dummen Fehlers meine Flügel nehmen und mich erneut zum Gefallenen machen würden. Eine Vorstellung, die durchaus verlockend gewesen wäre, wäre sie nicht mit dem Scheitern meiner
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