Seelenglanz
hatte. Schicht um Schicht zerriss ich das Gewebe aus falschen Erinnerungen und Gefühlen, bis sie zerflossen wie Nebel im Wind und nichts weiter blieb als die Wahrheit.
Es war, als ginge ein Ruck durch Karen, der all die negativen Gefühle der letzten Jahrzehnte zerschmetterte. Behutsam zog ich mich aus ihrem Geist zurück. Meine Hand lag noch immer auf ihrer Stirn, als Karen die Augen öffnete. Obwohl ich unsichtbar war, schien sie mich geradewegs anzusehen.
»Ein Engel«, flüsterte sie und richtete ihren Blick auf Jules. »Dein Vater war ein Engel.« Lächelnd schloss sie die Augen und war wieder eingeschlafen, bevor Jules etwas sagen konnte.
Stattdessen sah Jules mich an. »Wie hast du das geschafft?«
»Ich habe ihr ihre Erinnerung zurückgegeben.« Ich erzählte ihr von der Barriere, auf die ich gestoßen war, und wie ich sie aufgelöst hatte. »Ich kenne jetzt den Namen deines Vaters und weiß, wie er aussieht. Jetzt müssen wir ihn nur noch finden.«
»Du willst mir helfen?«
»Ja«, sagte ich und stand auf. »Es sei denn, du brauchst keine Hilfe und willst das allein machen.«
»Bist du verrückt!« Sie lachte, gleichzeitig glitzerten Tränen in ihren Augen. »Ohne dich schaffe ich das doch gar nicht. Ohne dich hätte ich so vieles nicht geschafft.«
Und ohne mich wäre vieles gar nicht erst passiert. Aber ich musste ja nicht jeden Gedanken aussprechen.
»Wie sieht er aus? Was war er für ein Mensch … Engel?«
»Davon kannst du dir später selbst ein Bild machen.« Ichkonnte sie an dem teilhaben lassen, was ich im Geist ihrer Mutter gesehen hatte, dazu brauchte es nicht mehr als eine Berührung und ein wenig Konzentration. Allerdings wollte ich damit warten, bis wir ungestört waren, irgendwo, wo weder ihre Mutter noch ein plötzlich auftauchender Pfleger uns stören konnte.
Mein Blick hing noch an Karens friedlichen Zügen, als ich Jules’ Hand auf meiner Schulter spürte. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als ihre Finger der Stelle nahe kamen, an der meine Flügel gesessen hatten.
Sofort zog sie ihre Hand zurück. »Entschuldige.«
Luzifer hatte mir das genommen, was ich immer für meinen wertvollsten Besitz gehalten hatte. Es schmerzte – womöglich für den Rest meines Lebens. Als mein Blick jedoch zu Jules glitt und ich die Wärme in ihren Augen sah, wurde mir klar, dass ich trotz des Verlustes meiner Flügel etwas bekommen hatte, von dem ich nie gedacht hätte, es je zu finden. Etwas, was mir zwar meine Flügel nicht ersetzen konnte, ihren Verlust aber auf andere Weise aufwog.
»Komm«, sagte ich und hielt ihr meine Hand entgegen.
»Wohin?«
»Disney World.« Als Jules meine Hand ergriff, schloss ich meine Finger um ihre. »Dieses Mal ist es allerdings ein Date.«
Autor Bio
Brigitte Melzer wurde 1971 geboren. Ob magische Abenteuer in fantastischen Welten oder fesselnder
Vampirroman – die Autorin ist heute eine der prägnantesten Stimmen der Urban Fantasy. Sie lebt und arbeitet in München.
Copyright-Seite
eISBN 978-3-7090-0081-6
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Umschlaggestaltung: Hanna Hörl Designbüro, München, und Ursula Kothgasser,
www.koco.at , unter Verwendung eines Motivs von © iStockphoto, Elena Vizerskaya
Lektorat: Wiebke Rossa
Copyright © 2011 by Otherworld im Verlag Carl Ueberreuter GmbH
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