Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Motor an und fährt weg.
Beim Eingang hocken ungefähr zehn junge Leute herum. Dem Aussehen nach sind sie die ganze Nacht durch die Clubs gezogen und warten jetzt auf ihren Regionalzug, der sie nach Hause in ihre Betten bringen soll. Sie sehen aus wie Sittiche auf der Stange, alle so farbenfroh in ihren grellbunten Jacken und Turnschuhen. Nur ihre Gesichter sind ziemlich finster. Offenbar handelt es sich um verkaterte Sittiche.
Ich nehme einen Stoß von den nach wie vor absolut leeren Karten, die ich immer noch in meiner Jackentasche habe, und spreche sie an:
»Hört mal, Leute, ich bin ein wenig verkatert, ich kapiere irgendwie nicht, ob diese Einladung hier für heute gilt oder für morgen. Könnt ihr mal nachsehen?«
Es kommt wie vermutet. Die Küken lesen. Und sie geraten in helle Aufregung.
»Das ist heute«, plappert einer von ihnen. »Um neun.«
»Wahnsinn, das ist für die Eröffnungsfete von einem Club oder was?«, ruft ein anderer Typ und nimmt dem ersten die Karte aus der Hand. »Haben Sie zufällig so ein Ding über?«
»Bist du sicher, dass du so was brauchst?«
»Und wie. Da würde ich irre gern hingehen.«
»Dann nehmt alle. Bevor ich es mir anders überlege«, grinse ich.
»Cool! Vielen Dank! Wir sehen uns bestimmt!« Der Junge quetscht mir die Hand.
»Wahrscheinlich.«
Ich gehe zum Fahrkartenschalter, drehe mich im Gehen noch einmal um und sehe, wie die jungen Leute ihren Kram zusammenraffen und sich eilig aus dem Staub machen. Wahrscheinlich haben sie Angst, dass ich es mir tatsächlich anders überlege und die leeren Kärtchen zurückverlange.
An den Schaltern herrscht ungewöhnlich wenig Betrieb. Ich trete an eines der Fenster, schiebe einen Tausendrubelschein hindurch und sage: »Eine Fahrkarte für den nächsten Zug, bitte.«
Die Angestellte fragt etwas. Ich verstehe es nicht, nicke aber. Sie gibt mir die Fahrkarte und das restliche Geld.
»Gleis Nummer sechs, Abfahrt in zehn Minuten.«
Ich kaufe mir am Bahnhofskiosk noch eine Schachtel Zigaretten und mache mich auf die Suche nach meinem Gleis …
In dem Regionalzug sitzt mir ein Opa gegenüber. Er trinkt Bier aus einer Eineinhalbliter-Plastikflasche. Gemächlich schraubt er den Verschluss auf, trinkt, schaut aus dem Fenster, schraubt den Verschluss wieder zu. Dann dreht er ihn wieder auf, nimmt einen großen Schluck und sieht durch mich hindurch. Ich glaube, er studiert den Fahrplan hinter mir an der Wand, und mein Körper stört ihn dabei nicht im Geringsten. Nachdem er das lange genug gemacht hat, sagt er:
»Das dauert.«
Im Gang erscheint ein Zeitungsverkäufer. Ich überlege, ob ich mir etwas zu lesen kaufen sollte, aber ich sehe keine einzige Überschrift. Weil ich sonst nichts zu tun habe, betrachte ich meine Mitreisenden. Die meisten sind Wochenendausflügler oder Jugendliche, die aus der Stadt nach Hause fahren, außerdem ein paar Büroangestellte in Business-Anzügen und Krawatten, die Augen gerötet von den Partys am vergangenen Abend. Am Fenster schräg gegenüber sitzt ein Mädchen und blättert mit verständnislosem Gesicht leere Seiten um.
Der Zug hält an einer Station. Wieder steigen Leute ein. Ich habe das Gefühl, dass sie mich alle erwartungsvoll anschauen und hoffen, dass ich ihnen irgendeine Heilsbotschaft verkünde, die ihr Leben von Grund auf verändert. Auf dem Bahnsteig dudelt ein populärer Schlager aus dem Gefängnismilieu. Ich spüre, wie meine Augenlider ganz schnell zu flattern beginnen. Soviel ich weiß, wird dieses erste Stadium
des Schlafes »Rapid Eye Movement« genannt, abgekürzt REM, und mir fällt ein, dass es eine amerikanische Rockband dieses Namens gibt. Ich stelle mir vor, dass die Schwuchtel Michael Stipe da draußen gerade diesen Gefängnisschlager singt und muss grinsen. Dann schlafe ich ein.
Im Traum bin ich in der Metrostation Teatralnaja, wo sich alle Frauen versammelt haben, mit denen ich je eine halbwegs ernsthafte Beziehung geführt habe. Sie sind alle gleichzeitig gekommen, weil ich mich so super mit jeder von ihnen verabredet habe. Jetzt finde ich das gar nicht mehr lustig, aber ich sehe, dass sie alle mich genau in diesem Augenblick bemerkt haben. Der Spaß ist mir restlos vergangen, das Einzige, was ich will, ist in den nächsten Zug zu springen und abzuhauen. Aber unglücklicherweise fahren sämtliche Züge an der Station vorbei, ohne anzuhalten. So geht es fünf oder zehn Minuten, und meine Frauen kommen lächelnd auf mich zu, immer näher und näher. Endlich
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