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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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schimmern vereinzelt die Lichter von Fenstern, sie verlieren sich in der Ferne und vermischen sich am Horizont mit den morgendlichen Sternen. Die Luft wird frischer. Ich hole meine Zigarettenschachtel aus der Tasche, nehme die letzte Zigarette heraus und schleudere die leere Schachtel hoch in die Luft. Als heller weißer Fleck beschreibt sie einen Bogen vor dem dunklen Himmel und fällt Richtung Wasser. Vor meinen Augen durchquert sie den blassen Lichtschein einer Laterne, und ich erkenne
die letzten Buchstaben der Zigarettenmarke – ENT. Dann klatscht sie auf die Oberfläche. Ich schaue der schwimmenden Schachtel nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwindet.
    Ich lege mich auf die Brücke, schiebe mir mein zusammengerolltes Jackett unter den Kopf und zünde die Zigarette an. Ich hebe die Hand mit dem brennenden Feuerzeug, schaue eine Weile in die Flamme, dann schließe ich die Augen. Wie bunte Glassplitter in einem Kaleidoskop erscheinen vor meinem inneren Auge alle möglichen Begebenheiten und Personen aus meinem Leben. Ich sehe meinen Freund Timur und mich als zehnjährige Jungen, wie wir in gelben T-Shirts auf dem Schulhof Fußball spielen und so tun, als wären wir Brasilianer. Wir spielen leidenschaftlich und mit allen Tricks, wie es sich für echte Ballkünstler gehört. Dann stehe ich auf dem alten Arbat, an einem Verkaufsstand voller Matrjoschkas und Einzelteilen sowjetischer Armeeuniformen. In meiner Faust spüre ich zerknitterte Dollarbanknoten, die ich in einer Stuhllehne verstecken will, aber ich kann mein gewohntes Geheimfach nicht mehr finden. Dann bin ich auf dem gemeinsamen Abschlussball aller Moskauer Schulen in dem Konzertsaal namens »Russland« und trinke Sowjetischen Champagner aus der Flasche. Im nächsten Bild bin ich in einer fremden Wohnung im Südwesten von Moskau. Halbnackte Männer- und Frauenkörper liegen zwischen Zigarettenstummeln und leeren Flaschen. Ich stehe auf, sehr dünn und ausgezehrt, binde mir ein Handtuch um die Hüften und trete vor einen großen Spiegel, der mitten im Zimmer hängt. Der Spiegel zeigt mein aschgraues Gesicht und dahinter ein Bett, auf dem zwei Mädchen aus
einer Parallelklasse liegen. Wir sind im zweiten Studienjahr, und wir sind auf einmal sehr erwachsen geworden.
    Als Nächstes ziehe ich ein Jackett an und greife nach einem Koffer. Ich bin im Begriff, zu meiner ersten Geschäftsreise nach Paris aufzubrechen. Meine Mutter verabschiedet sich an der Tür von mir, sagt, ich müsse sie unbedingt anrufen, sobald das Flugzeug gelandet ist. Ich nicke und verspreche es ihr, obwohl ich es bestimmt vergesse. Es folgen rasch hintereinander Gesichter, Orte, Landschaften, Gesprächsfetzen, die Bilder werden immer schneller und schneller, bis sie mit irrsinniger Geschwindigkeit an mir vorbeirasen. Ich liege schlafend in einem leeren Metro-Waggon, hocke auf der Erde und kühle meine blutende Nase mit Schnee, liege besoffen auf dem Rücksitz eines Mercedes und schaue in die Neonlichter der nächtlichen Stadt, kaufe Haschisch bei Schwarzen in Paris, stehe vor dem Badezimmerspiegel und betrachte meine zerkratzte Schulter. Ich sehe die rothaarige Lena, die mich weinend ein mieses Schwein nennt, dann die Beerdigung eines Kommilitonen, die fließend in die Hochzeit meines besten Freundes übergeht. Ich stehe auf einem Fußballplatz in der Nähe der Metrostation Retschnoj Woksal und reiße die Banderole eines Geldscheinbündels auf, dann schnupfe ich Koks auf der Toilette eines Restaurants, dann umarme ich den Club-Promoter Sascha, dessen Gesicht sich abrupt in das der Tatarin Elwira verwandelt, die ich gerade auf der Toilette bumse, während ich mit dem linken Fuß die Tür hinter mir zuhalte, die ständig jemand einzudrücken versucht, bis ich ziemlich genervt bin, weil mein Bein eingeschlafen ist und mir die Arme wehtun, aber ich kann weder die Tür noch Elwira loslassen. Jetzt blendet die
Toilettenszenerie in eine Gucci-Boutique in der Luxus-Einkaufspassage Tretjakowski-Projesd in Moskau über, ich spreche per Handy mit Jula und gestikuliere verzweifelt, weil ich ihr irgendetwas ganz Wichtiges beweisen will. Ich verlasse die Boutique und gerate auf den Newski-Prospekt in Petersburg, in der Nähe des Gostini-Dwor. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Café SSSR, steht Vadim und winkt mir zu. Dann erscheinen alle gleichzeitig. Meine Oma, die mich fragt, ob ich die Telefonrechnung bezahlt habe; der kleine Bulle, der mich in der Toilette erwischt hat und sich von mir die

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