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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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zurückgekehrt. Meine Mutter erklärte mir dann, er
sei krank gewesen, und sie habe ihn in die Poliklinik gebracht, wo man ihn schnell wieder gesund gemacht habe. Dass er dabei eine andere Farbe bekommen habe, sei ganz normal.
    Damals kam mir nicht in den Sinn, dass meine Mutter im Bestreben, meine kindliche Psyche nicht zu verletzen, mir jedes Mal einen neuen Wellensittich kaufte, wenn einer der alten gestorben war. Und ich glaubte alle diese Geschichten von wundersamen Heilungen, denn auch in den Märchen, die ich kannte, starben die Helden ja niemals wirklich, sondern fielen höchstens in einen langen Todesschlaf, aus dem sie bald wieder erweckt wurden. Der Tod existierte für mich nicht.
    Aber eines Tages ging ich mit meiner Großmutter spazieren und sah auf der Straße einen toten Hund, der von einem Auto überfahren worden war. Sein Körper war halb zerfetzt, das Maul stand weit offen und entblößte sein Gebiss, so dass es aussah, als fletschte er die Zähne. Ich verstand sofort, dass dieser Hund nicht schlief. Bis heute erinnere ich mich deutlich an das Entsetzen, das ich bei dem Anblick empfand. Mit bebender Stimme fragte ich meine Großmutter, was mit dem armen Hund passiert sei. Sie sah mich traurig an und erklärte mir, er sei gestorben. In Tränen aufgelöst bestürmte ich sie während des ganzen Heimwegs mit Fragen: Wacht er denn gar nicht mehr auf? Kann ihm denn niemand mehr helfen?
    Diese Fragen riefen in meinem Kinderhirn eine lange Kette weiterer schrecklicher Fragen hervor. Wenn ein Hund sterben konnte, hieß das, auch wir würden alle irgendwann sterben? Die Wellensittiche und Mama und Oma und schließlich ich?

    Es war meine erste Erfahrung mit einer existenziellen, alles verzehrenden Angst, der Angst vor dem Verlust geliebter Menschen. Und alle Versuche, mich zu trösten, zum Beispiel mit dem Versprechen, das alles würde ja noch lange, lange dauern, trugen nur dazu bei, sie noch zu verstärken. In mir entstand die Angst vor dem Ungewissen, samt dem Bewusstsein, dass all die fröhlichen, sorglosen Tage, Sommer und Winter, Regen und Schnee nur ein kleiner Aufschub des unvermeidlichen Endes waren.
    Als ich älter wurde, vertrieb die Intensität der schönen Lebensmomente den Tod aus meinem Gedächtnis. Aber die Erinnerung an die im Tode gefletschten Zähne jenes Hundes ist mir bis heute geblieben. Natürlich ist mir in meinem späteren Leben der Tod noch viele Male begegnet. Freunde und Schulkameraden sind gestorben, die Eltern, Verwandte. Aber diese erste kindliche Begegnung mit dem Tod war für mich das Schlüsselerlebnis, das ich in meinem Leben nicht mehr losgeworden bin.
    Was wäre wohl, wenn ich jetzt gerade die Wunschblume gefunden hätte? Mir fällt tatsächlich nichts ein, was ich mir gewünscht hätte. Alles, was ich mir vorstellen kann, scheint mir öde. Jeder Ort auf der Welt scheint mir so langweilig wie jeder andere. Alle Menschen, die mir in den Sinn kommen, sind sich zum Verwechseln ähnlich. Was immer ich erleben könnte, habe ich schon tausendmal erlebt. Mir war niemals so klar wie jetzt, dass es weder den idealen Ort gibt, an den ich mich jetzt wünschen könnte, noch den idealen Menschen, deren Gesellschaft ich ersehne.
    Interessant, was? Ich bin vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn ihm ein Wunsch gewährt würde, die
magische Blume einfach jemand anderem weiterreichte. Welch grenzenlose Großzügigkeit, geboren aus grenzenloser Leere und vollständiger Verkümmerung der Fantasie. Reich an Möglichkeiten und arm an Geist.
    Halt, jetzt fällt mir doch etwas ein. Ich würde mir wünschen, in meine Kindheit zurückzukehren. Aber wahrscheinlich hieße es dann doch nur: Dieser Service steht leider nicht zur Verfügung …
    Ich sehe von der Brücke auf den Fluss hinunter. Bis zur Wasseroberfläche sind es ungefähr vierzig Meter. Ich überlege, ob man im Fallen das Gefühl des Fliegens bekommt. Bestimmt. Wie sonst wäre diese große Zahl von Selbstmördern zu erklären, die von Brücken oder Dächern springen. Sie suchen das Gefühl zu fliegen, wie viele von uns.
    Ich hebe den Kopf und betrachte die wunderbare Landschaft, die sich jenseits des Flusses erstreckt. Die Nacht ist fast zu Ende, aber der Tag hat noch nicht begonnen. Es ist genau jene Zeit zwischen den Tagen, für die es in der russischen Sprache keinen Begriff gibt. Das Englische hat dafür einen ganz präzisen Ausdruck: »in between days«.
    Ich stehe auf der Schwelle zwischen den Tagen. In der Dämmerung

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