Seelentod
ausgesucht, der ein Stück außerhalb lag; das Letzte, was sie wollte, war, dass jemand, den sie kannte, sie hier sah. Ihren Kollegen hatte sie nichts davon erzählt, und obwohl ihnen möglicherweise aufgefallen war, dass ihre Haut und die Haare nach Chlor rochen, hüteten sie sich doch davor, etwas zu sagen.
Vera erreichte den Beckenrand und hielt sich fest, um wieder zu Atem zu kommen. Sich aus dem Becken zu stemmen, wie es die jungen Frauen taten, war für sie nicht drin. Als sie zur Treppe watete, warf schon jemand die Kette aus Schwimmkork in die Mitte des Pools, um die für den Aqua-Aerobic-Kurs reservierten Bahnen abzugrenzen. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.
Im Dampfbad duftete es nach Zedernholz und Eukalyptus. Der Dampf war so dicht, dass sie zuerst gar nicht sehen konnte, ob außer ihr noch jemand da war. Es machte ihr nichts aus, das Dampfbad mit anderen Frauen zu teilen – hier konnte ja keine genauer erkennen, wie sie aussah. Vielleicht spürten sie ihre Massigkeit, aber der Rest blieb ihnen verborgen. Doch wenn sie mit einem Mann allein hier drin war, fühlte sie sich merkwürdig verwundbar. Es war nicht die Angst, jemand könnte sie angreifen oder auch nur antatschen oder sich vor ihr entblößen. Sie waren ja bloß durch eine Schwingtür vom Lärm der Schwimmhalle getrennt. Auf einen Schrei hin würde jemand vom Personal kommen, außerdem hatte sie noch nie Angst vor solchen Spinnern gehabt. Aber hier drin herrschte eine Intimität, die ihr Unbehagen bereitete. Wenn sie ein Gespräch anfing, würde sie womöglich Dinge von sich preisgeben, die sie später bereute. Hier, wo man fast nackt war und betäubt von der Hitze und dem Duft, würde eine zufällige Begegnung sie noch dazu verleiten, Vertraulichkeiten auszuplaudern.
Doch im Moment war nur eine andere Frau da, die mit angezogenen Beinen in der Ecke saß, die Füße ruhten auf der Marmorbank. Ihr Kopf war zurückgelehnt, sie sah vollkommen entspannt aus. Vera beneidete sie. Den Zustand vollständiger Entspannung erreichte sie selbst nur selten. Die Mädchenärztin hatte ihr Yoga vorgeschlagen, und Vera hatte es ausprobiert, aber sterbenslangweilig gefunden. In einer Stellung zu verharren, stundenlang, wie es ihr vorkam, flach auf dem Rücken zu liegen, während ihr die Gedanken und Ideen im Kopf herumtobten – wie um alles in der Welt sollte das entspannend sein?
Vera ließ sich behutsam auf dem Marmor nieder, der vom Kondenswasser ganz rutschig war, und machte dabei ein Geräusch wie ein nasser Furz. Die Frau in der Ecke reagierte nicht, wie taktvoll. Vera versuchte, den Kopf nach hinten zu lehnen und die Augen zu schließen, aber die Gedanken an die Arbeit drängten sich vor. Sie hatte gerade keinen Fall, der ihr besondere Sorgen bereitete. Seit Weihnachten war es ungewöhnlich ruhig gewesen. Aber irgendetwas gab es immer: Nörgeleien über die Büropolitik, der Gedanke an einen Hinweis, dem man hätte nachgehen sollen. In Momenten körperlicher Ruhe arbeitete ihr Gehirn wie üblich am heftigsten.
Sie machte die Augen wieder auf und betrachtete die Frau in der Ecke mit neidischem Blick. Der Dampf wirkte jetzt weniger dicht, und Vera sah, dass sie noch nicht alt war, eher in den Vierzigern. Kurzes, lockiges Haar, ein schlichter, blauer Badeanzug. Schlank, mit langen, wohlgeformten Beinen. Und erst da, als ein Luftzug aus dem Nichts den Nebel zerstäubte, wurde Vera klar, dass ihre Gefährtin zu ruhig dasaß und ihre Haut zu blass war. Die Frau, auf die Veras Neid sich gerichtet hatte, war tot.
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Kapitel Zwei
Draußen in der Schwimmhalle hatte der Aerobic-Kurs schon angefangen. Es lief Musik, auch wenn man davon nur die hämmernden Bässe wahrnahm. Vera warf einen Blick über die Schwingtür. Die Frauen im Wasser verrenkten sich und wedelten mit den Händen durch die Luft. Vera beugte sich über den Körper der Frau und suchte nach einem Puls, aber schon während sie das tat, wusste sie, dass sie keinen finden würde. Die Frau war umgebracht worden. Im Weiß der Augen sah man rote Pünktchen, und um den Hals waren Blutergüsse. Vera wusste, dass es falsch war, doch ein Stimmchen in ihrem Kopf schrie vor Erregung leise auf. Jetzt zögerte sie. Auf keinen Fall wollte sie eine Massenpanik verursachen. Und außerdem war sie nicht bereit, Ärzte und Kollegen in einem schwarzen Badeanzug zu empfangen, in dem sie aussah wie ein kleiner Sperrballon. Zuerst einmal musste sie sich anziehen.
Eine junge
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