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Segel der Zeit

Segel der Zeit

Titel: Segel der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Zentimeter über dem Riegel. Mit einem Mal war sie überzeugt, eine Kugel ins Herz oder einen Granatsplitter in den Körper zu bekommen, wenn sie diesen Riegel zurückzöge. Warum sollte Gonlin sie am Leben lassen, nachdem er sie so brutal unter Druck gesetzt hatte? Dennoch, sie musste herausfinden, ob Telen tatsächlich hier war.
    Sie warf einen Blick zurück. Erik schwebte neben der anderen Baracke und beobachtete sie. Es gab anscheinend keine Alternative; sie legte die Finger um den Riegel.
    Etwas krachte in der Ferne, dann ließ sich Chaisons Stimme vernehmen. Erik drehte den Kopf, und diesen Sekundenbruchteil nützte Antaea, um zwischen der
Decke und dem Boden aus rauem Fels um die Ecke der Baracke und in den Schatten dahinter zu springen. Erik drehte sich wieder zurück, zögerte einen Moment, wandte sich dann entschlossen ab und strebte dem Kampfeslärm zu. Antaea schwebte so leise, wie sie nur konnte, an das Seitenfenster der Baracke und schaute mit wild klopfendem Herzen hinein.
    Telen war da. Sie hing völlig reglos in der Luft, ihr Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Die Augen waren auf die Tür gerichtet.
    Sie war nicht gefesselt.
    Antaea starrte sie an, suchte nach einem Anhaltspunkt dafür, was sie tun sollte. Nach einer Weile kam ihr Telens Reglosigkeit merkwürdig vor. Sogar unnatürlich. – Nein, sie konnte nicht tot sein – Antaea sah, wie sich ihre Lider bewegten, und atmete ein wenig auf. Sie beschloss, das nächste Blinzeln abzuwarten, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Zeit schleppte sich träge dahin.
    Volle zwanzig Sekunden vergingen, bis Telen das nächste Mal die Auge schloss und wieder öffnete. Diesmal zählte Antaea mit, bis zum dritten Blinzeln dauerte es abermals genau zwanzig Sekunden.
    Die Bewegung war so langsam und präzise wie das Vorrücken des Stundenzeigers einer Uhr. Antaea spürte ein Kribbeln im Nacken. Sie schaute nun schon länger als eine Minute durch das Fenster, aber Telen hatte sich überhaupt nicht bewegt. Dennoch war sie wach, und ihr Blick war auf die Tür gerichtet, durch die Antaea eigentlich kommen sollte.
    Antaea wich in die Schatten zurück. Was hatte das zu bedeuten? Stand Telen unter Drogen? Zunächst schien
das die einleuchtendste Erklärung zu sein, aber unter Drogen hätte sie sich in Fötushaltung zusammengekrümmt wie die meisten Schläfer im freien Fall. Antaea wusste, dass dies auch Telens Schlafstellung bei Schwerelosigkeit war. Jetzt hielten ihre Muskeln sie aufrecht. Sie war wach.
    Antaea beschlich eine abergläubische Furcht. Sie merkte, wie sie immer weiter zurückwich in die Dunkelheit, die den Asteroiden in zwei Teile spaltete.
    Irgendetwas übersah sie, irgendeinen Hinweis darauf, was eigentlich vorging. Sie kniff sich selbst heftig in die Unterarme. »Denk nach, Schwachkopf!«, zischte sie sich zu. Wie würde sich Chaison Fanning, der militärische Taktiker, in dieser Situation verhalten?
    Er würde sich in die Denkweise des Feindes hineinversetzen. Also, was hatte Gonlin soeben bezweckt? Natürlich, er wollte sie aus der Fassung bringen, und das ganz bewusst. Er hätte nicht mit Gewalt oder Druck bewirken können, dass sie hierherkam, denn sie war immer noch eine von seinen Leuten, und es wäre für die Moral ihrer ehemaligen Freunde schlecht gewesen, wenn man sie misshandelt hätte. Und er hatte gewollt, dass sie geradewegs an diesen Ort ging, anstatt … wohin? Es gab für sie kein anderes Ziel.
    Oder etwa doch, und zwar ein so naheliegendes und unwiderstehliches Ziel, dass Gonlin glaubte, mit einem emotionalen Magenschwinger verhindern zu müssen, dass Antaea darauf kam. Und sie durfte nicht darauf kommen, weil ihn – und alle seine Männer – dieses Ziel beunruhigte. Weil es ihnen Angst machte und sie … blockierte?

    Wieder zischte sie, diesmal vor Zorn und Überraschung. Sie wandte sich von den Bergwerksbaracken ab und tastete sich den schmaler werdenden Felsspalt entlang. Wenige Minuten später zog sie sich aus einer engen Ritze unter den Wurzeln eines Ahornbaums ins Freie.
    Sie schaute zurück. Telen war immer noch in der Baracke. Wenn sie es wirklich war; aber dann müsste Gonlin sie jetzt gehen lassen, er hatte schließlich den Admiral. Antaea klammerte sich an diesen Gedanken und sah sich um.
    Sie schwebte in einer seltsamen Dämmerwelt zwischen borkigen Stämmen

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