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Sehnsucht der Unschuldigen

Sehnsucht der Unschuldigen

Titel: Sehnsucht der Unschuldigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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herrschte, räumte sie die Lebensmittel gleich in den Kühlschrank. Erleichtert stellte sie fest, daß er blitzblank geputzt war.
    Ihr war gesagt worden, daß die Frauen aus der Nachbarschaft nach der Beerdigung zum Putzen gekommen waren. Bislang hatte Caroline das Wort von der Nachbarschaftshilfe auf dem Land nie so recht geglaubt. Jetzt konnte sie sich von seiner Richtigkeit überzeugen. Trotz des zwei Monate alten Staubs und der Spinnweben in sämtlichen Ecken hing noch überall ein schwacher Geruch von Bohnerwachs.
    Mit auf dem Holzboden klappernden Absätzen ging sie zum Flur zurück und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Den alten Fernseher und die Musiktruhe, die aussah wie ein Kunstwerk aus vergangenen Zeiten, gab es immer noch. Auch hier hatte sich dichter Staub auf die Möbel gesenkt. Es herrschte eine gespenstische Atmosphäre im Zimmer. Die nächste Station war das Büro ihres Großvaters mit seiner Jagdgewehr- und Scheibenpistolensammlung und seinem gewaltigen, unter den Lehnen inzwischen etwas ausgefransten Ohrensessel.
    Caroline wuchtete beide Koffer hoch und erklomm die Treppe zum ersten Stock, um sich ein Zimmer auszusuchen.
    Aus Sentimentalität, aber auch aus praktischen Erwägungen entschied sie sich für das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Das massive Ehebett und die darauf ausgebreitete Steppdecke mit dem in der Mitte aufgestickten Ehering versprachen Komfort.
    Vielleicht barg die Zedernholztruhe an seinem Fußende sogar ein paar ungeahnte Geheimnisse. Die mit winzigen Rosen und Veilchen gemusterte Tapete wirkte auf alle Fälle anheimelnd auf sie.
    Caroline stellte die Koffer ab und trat auf den Balkon. Die Tür hatte die ganze Zeit offengestanden. Unter ihr führten die Gartenrosen einen nicht sehr aussichtsreichen Kampf gegen das Unkraut. Hinter einem Grüppchen Eichen plätscherte ein Bach gegen einen Steinbrocken oder versunkenen Holzblock, und in der Ferne konnte sie im Dunst ein breites braunes Band sehen, den mächtigen Mississippi.
    Vögel, vor allem Spatzen, Amseln, Lerchen und Eichelhäher und vielleicht auch ein Puter mit seinem rauhen Gurgeln, schmetterten eine Symphonie in den heißen Himmel hinauf.
    Die anmutige, zarte, möglicherweise eine Spur zu dünne Frau mit grazilen Händen und grünen Augen blieb einen Moment träumend stehen. Der Ausblick, die Geräusche und die Düfte lösten sich auf.
    Sie war wieder bei ihrer Mutter im Zimmer, in dem es immer nach Chanel roch und die Wanduhr leise tickte. Bald mußte sie wieder zur Probe.
    »Wir erwarten von dir nur das Beste, Caroline.« Der Tonfall ihrer Mutter ließ keine Widerrede zu. »Alles andere wäre eine Enttäuschung, ist dir das klar?«
    Carolines Zehen krümmten sich in ihren Schuhen. Sie war erst fünf Jahre alt. »Jawohl, Ma’am.«
    Sie sah sich im Salon. Die Arme taten ihr weh vom zweistündigen Üben. Draußen schien die Sonne so herrlich. Vor dem Fenster erblickte sie ein Rotkehlchen. Es hockte so komisch auf seinem Ast, daß sie in Kichern ausbrach und die Geige absetzte.
    »Caroline!« gellte die Stimme ihrer Mutter durch den Raum.
    »Du bist noch lange nicht fertig. Ohne Disziplin wirst du nie auf Tournee gehen. Fang bitte noch mal von vorne an.«
    »Es tut mir leid, Mutter.« Seufzend legte die zwölfjährige Caroline die Geige wieder auf die Schulter. Sie hatte das Gefühl, sich Blei aufzuladen.
    Sie wartete auf ihren Auftritt und kämpfte gegen das flaue Gefühl im Magen an. Vom Üben, den endlosen Proben und den vielen Reisen war sie schrecklich müde. Wie lange steckte sie nun schon in dieser Tretmühle? War sie achtzehn oder schon zwanzig?
    »Caroline, trag um Himmels Willen mehr Rouge auf. Du siehst ja aus wie eine wandelnde Leiche.« Schon wieder die ungeduldige, zänkische Stimme ihrer Mutter. »Kannst du denn nicht mit etwas Begeisterung bei der Sache sein? Begreifst du nicht, wie dein Vater und ich uns abgerackert haben, nur um dich dahin zu bringen, wo du jetzt stehst? Und was machst du?
    Zehn Minuten vor dem Konzert trödelst du vor dem Spiegel herum!«
    »Es tut mir leid.«
    Es hatte ihr immer leid getan.
    Auch als sie in Toronto im Krankenhausbett gelegen und sich ihrer Erschöpfung wegen geschämt hatte.
    »Was soll das heißen, du hast den Rest der Tournee abgesagt?« Das angespannte, erregte Gesicht ihrer Mutter hing direkt über ihr.
    »Es geht einfach nicht mehr. Es tut mir leid.«
    »Es tut dir leid? Davon kann sich keiner was kaufen. Du machst nicht nur deine Karriere kaputt, es ist auch einfach

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