Sehnsucht der Unschuldigen
andere Wagen halb auf der Straße und halb auf der Auffahrt zu Edith McNairs Haus stand.
Während Jerry Lee Lewis mit rauher Stimme sein ›Breathless‹ sang, dachte Tucker über die Fahrerin des BMW nach.
Miss Edith war vor zwei Monaten gestorben. Im April war das gewesen, genau zu der Zeit, als die zweite verstümmelte Leiche im Wasser gefunden worden war. Man hatte Suchtrupps organisiert, weil Francie Alice Logan bereits seit zwei Tagen vermißt worden war. Bei der Erinnerung an das mühselige Durchkämmen des Schilfs biß Tucker unwillkürlich die Zähne aufeinander. Er hatte sich damals weiß Gott kein Be in ausgerissen, in der Hoffnung, daß andere auf sie stoßen würden.
Und dann war doch er zusammen mit Burke Truesdale über die Leiche gestolpert.
Es war wahrlich kein schöner Anblick gewesen, zu sehen, was das Wasser und die Fische der ehedem so knackigen Francie angetan hatten, mit der er sich ein paarmal getroffen hatte, ohne allerdings mit ihr im Bett zu landen.
Da sein Magen sich umzudrehen drohte, stellte er Jerry Lee Lewis lauter. Er konnte, er durfte nicht an Francie denken.
Besser, er beschäftigte sich mit Miss Edith, die im Alter von fast neunzig Jahren sanft entschlafen war.
Nun wußte Tucker aber, daß im Umkreis von fünfzig Meilen niemand einen BMW besaß. Andererseits hatte er von einer Enkelin aus dem Norden gehört, die sich hier nie hatte blicken lassen, die aber wohl allem Anschein nach das Haus geerbt hatte. So konnte die Fahrerin nur diese ominöse Yankee sein, die sich nach dem Tod der Oma mal die Erbschaft ansehen wollte.
Mit dieser Invasion aus dem Norden wollte sich Tucker aber auch nicht beschäftigen. Er zündete sich eine Zigarette an, nicht ohne vorher ein Stück von der Spitze abzubrechen.
Eine halbe Meile hinter ihm klammerte sich Caroline Waverly immer noch an das Lenkrad und wartete, bis ihr das Herz nicht mehr bis zum Halse klopfte.
Idiot! Schwachkopf! Rücksichtsloser Trottel!
Erst jetzt merkte sie, daß sie immer noch auf der Bremse stand. Langsam trat sie wieder aufs Gas und fuhr ganz in den überwachsenen Feldweg hinein.
Ein paar Zentimeter näher, und er hätte sie voll erwischt. Und dann drückte der unverschämte Kerl auch noch auf die Hupe!
Oh, hätte er doch angehalten! Dem hätte sie aber ihre Meinung gegeigt!
Dann hätte sie sich bestimmt gleich viel besser gefühlt.
Inzwischen schaffte sie es ganz gut, ihre Wut gleich abzureagieren – seit Dr. Palamo ihr erklärt hatte, daß sie ihre Gefühle immer unterdrücke und deshalb ständig Magengeschwüre und Kopfschmerzen bekam. Die natürlich auch eine Folge von permanentem Streß waren.
Nun, in beide Richtungen hatte sie ja jetzt etwas geändert.
Caroline nahm ihre schweißnassen Hände vom Steuer und wischte sie an ihrer Hose ab. Hier am Delta des Mississippi, wo sich die Füchse und Hasen gute Nacht sagten, wollte sie einmal richtig Urlaub machen. Nach ein paar Monaten Ruhe würde sie sich dann wieder auf die nächste Tournee vorbereiten können, vorausgesetzt, sie kam in dieser sengenden Hitze nicht um.
Was die Unterdrückung ihrer Gefühle betraf, so hatte sie sich endlich von allen inneren Fesseln befreit. Bei ihrem häßlichen und endgültigen Bruch mit Luis hatte sie sich so herrlich ausgetobt, daß sie sich fast wünschte, sie könnte nach Baltimore zurückgehen und dasselbe noch einmal tun.
Fast.
Aber das war jetzt vorbei. Luis mit seinem schnellen Mundwerk und seiner brillanten Intelligenz lag ein für alle Mal hinter ihr. Die Zukunft interessierte sie nicht die Bohne, solange sie nicht richtig ausgespannt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte Caroline Waverly, Wunderkind, Musikerin aus Leidenschaft und emotionaler Krüppel, ausschließlich ans Hier und Jetzt denken.
Dafür war dieses Nest der ideale Ort. Hier machte ihr keiner Vorschriften. Endlich rannte sie auch nicht mehr vor den eigenen Problemen davon. Mit dem Ja und Amen zu den Wünschen und Erwartungen ihrer Mutter war es vorbei. Sie strampelte sich nicht mehr ab, nur um dem gerecht zu werden, was die anderen in sie hineinprojizierten.
Am Ende dieses Sommers, dessen war sie sicher, würde sie genau wissen, wer Caroline Waverly nun wirklich war.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, fuhr sie langsam weiter. Sie konnte sich vage daran erinnern, diesen Weg schon einmal entlanggelaufen zu sein. Es war bei einem Besuch bei ihren Großeltern gewesen. Einem kurzen natürlich. Carolines Mutter hatte nach Kräften die Bindungen zu
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